10 Jahre Psychotherapeutenkammer NRW

Die Psychotherapeutenkammer NRW hat am 19.9.2012 ihr zehnjähriges Bestehen in Düsseldorf mit 150 Gästen aus Politik, Wissenschaft und Praxis gefeiert. Anlässlich der laufenden Beratungen zur Reform der Bedarfsplanung hatte die Kammer für Nordrhein-Westfalen 1.600 psychotherapeutische Praxen zusätzlich gefordert und insbesondere die massive Benachteiligung der Großstädte im Ruhrgebiet kritisiert. Während sonst überall in Deutschland 38,8 Psychotherapeuten je 100.000 Einwohner zugelassen werden, müssen die Großstädte zwischen Duisburg und Dortmund mit 11,4 Psychotherapeuten je 100.000 Einwohner auskommen. Psychische Erkrankungen seien im Ruhrgebiet aber keineswegs seltener als in allen anderen deutschen Großstädten. „Das ist eine absurde Annahme, für die es keine fachliche Begründung gibt“, kritisierte Monika Konitzer, Präsidentin der Psychotherapeutenkammer, auf der Pressekonferenz.

NRW-Gesundheitsministerin Barbara Steffens würdigte die konstruktive Zusammenarbeit mit der neuen Heilberufskammer, deren hohe fachliche Kompetenz immer geholfen habe. Mit der Kammer sei stets ein gemeinsamer Dialog über die Frage geführt worden: „Haben wir die Angebote und Strukturen im Gesundheitssystem, die die Menschen brauchen?“ Sie mahnte das Gegeneinander im System aufzubrechen und sich gemeinsam an einen Tisch zu setzen, um die zukünftigen Umbrüche zu bewältigen. Sie sähe auch die Aufgabe, sich in der psychotherapeutischen Versorgung dem tatsächlichen Bedarf anzunähern. „Ich weiß, dass psychisch Kranke noch lange nicht in jedem Landesteil zumutbare Wartezeiten haben“, stellte Ministerin Steffens fest. Annahmen, dass Menschen auf dem Land seltener psychisch krank seien, seien „an den Haaren herbeigezogen“. Steffens sah die Aufgabe, an einer „Entschleunigung der Gesellschaft“ zu arbeiten. Die Unsicherheiten nähmen zu, die Frage „Wie kann ich meine Familie ernähren?“ sei immer schwieriger zu beantworten. Die Menschen müssten zunehmend für viele Dinge individuell die Verantwortung übernehmen. „Der Raum, um innezuhalten, ist häufig nicht mehr da.“

Die Psychotherapeutenkammer NRW hatte anlässlich ihres Jubiläums zu der Tagung „Psychische Gesundheit im Fokus“ eingeladen, um aktuelle und zukünftige Probleme der Versorgung von psychisch kranken Menschen zu diskutieren. Präsidentin Monika Konitzer bedankte sich einleitend bei allen, „die uns als neue Heilberufskammer bei und seit der Gründung unterstützt und das Hineinwachsen in das nordrhein-westfälische Gesundheitssystem begleitet haben“. Das NRW-Gesundheitsministerium habe von Beginn an der Errichtung einer Psychotherapeutenkammer aufgeschlossen gegenüber gestanden und mit Rat und organisatorischer Hilfe ihren Aufbau begleitet. Die Psychotherapeutenkammer NRW habe ebenfalls von der Unterstützung und den Erfahrungen der beiden Ärztekammern profitieren können. „Ich freue mich sagen zu können, dass sich inzwischen vielfältige und tragfähige Kooperationen zwischen unseren Kammern entwickelt haben, die sich sicher noch vielfältiger und enger gestalten werden“, betonte Präsidentin Monika Konitzer.

Zehn Jahre Psychotherapeutenkammer NRW hieße aber auch: mehr als zehn Jahre Arbeit daran, sich als Beruf selbst zu verwalten, die Berufe der Psychotherapeutin und des Psychotherapeuten auszugestalten und eine gemeinsame Identität herauszubilden, die bisher durch verschiedene psychotherapeutische Verfahren und berufliche Tätigkeitsfelder geprägt gewesen sei. Mit hohem ehrenamtlichen Engagement sei eine Satzung, eine Berufsordnung, eine Fortbildungs- und eine Weiterbildungsordnung erarbeitet worden. All diese grundlegenden Regelungen seien von der Kammerversammlung einstimmig verabschiedet worden.

Prof. Dr. Rainer Richter, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer, erinnerte an die konstruktive Zusammenarbeit auf bundespolitischer Ebene, auf der die Voten der größten deutschen Psychotherapeutenkammer „geschätzt und zuweilen auch gefürchtet“ gewesen seien. Dank des gemeinsamen Einsatzes aller Psychotherapeutenkammern sei es z.B. gelungen, das Thema „Psychische Gesundheit und Arbeit“ so in der Öffentlichkeit durchzusetzen, dass Gesundheitspolitik, Krankenkassen, Arbeitgeber und Gewerkschaften sich mittlerweile intensiv damit beschäftigen würden. Grundsätzliche gesellschaftliche Veränderungen der Flexibilisierung und Entgrenzung hätten bis weit in den privaten Bereich hinein haltgebende Strukturen aufgelöst. Aufgabe der Gesundheitspolitik sei es deshalb nicht nur, die für die Kuration notwendigen Behandlungsplätze zu schaffen, sondern auch immer stärker die Prävention psychischer Erkrankungen anzupacken.

Dr. Kristina Wulf, niedergelassene Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin aus Köln, beschrieb den Stress, den Kinder und Jugendliche heute durch alltägliche Probleme (z.B. schulische Probleme), Lebenskrisen (z.B. Scheidung) und entwicklungsbedingte Probleme (z.B. Pubertät) ausgesetzt sind. Immer stärker tauchten schulische Stressoren in den Schilderungen der Kinder auf, die manchmal jede Note als lebensentscheidend erleben würden, z.B. „Wenn ich die Mathearbeit schlecht schreibe, bekomme ich eine schlechte Note auf dem Zeugnis. Und dann kann ich nicht zum Gymnasium und kriege keinen guten Job.“ Die Veränderungen des Arbeitsmarktes hätten dazu geführt, dass die berufliche Qualifikation schon ab der Kita beginne. Durch ein vergrößertes Freizeitangebot habe es eine Beschleunigung des Alltags gegeben, der dazu führe, dass Kinder Arbeitstage von acht bis zehn Stunden hätten und sich wie Erwachsene beschäftigten. Das Konzept einer Kindheit verschwinde. Es fehle an Regenerationszeiten. Schließlich ginge der Anstieg des Stresserlebens nicht einher mit einer gleichzeitigen Entwicklung einer entsprechenden Bewältigungskompetenz. Die Auswirkungen würden Kinder aller Altersstufen, aller Bildungsschichten und aller sozialer Schichten betreffen. Besonders stressanfällig seien Kinder, die viel nachdenken, mit hoher Leistungsorientierung, mit niedrigem Selbstwert und viel Stress im Umfeld.

Achim Dochat, Abteilungsleiter Psychologische Fachdienste bei der Bergischen Diakonie in Wuppertal, beschrieb die psychotherapeutische Versorgung von psychisch kranken Menschen mit schweren Beeinträchtigungen. Nur etwa fünf Prozent der Patienten mit schweren und chronischen Psychoseerkrankungen erhielten eine psychotherapeutische Behandlung. Diese überraschend geringe Zahl hätte sich auch in den vergangenen Jahren nicht wesentlich verändert. „Dieser Befund muss uns wachrütteln!“, forderte Achim Dochat. „Er steht in diametralem Gegensatz zum Stand der Wissenschaft und zu fachlichen Empfehlungen.“ Die Leitlinien zur Schizophreniebehandlung würden z.B. Psychotherapie in allen Stadien empfehlen. Ambulante Behandlung sowohl akuter, als auch schwerer und langzeitiger psychiatrischer Erkrankungen profitiere von Verzahnung und Abstimmung aller Beteiligten in Form von Casemanagement-Modellen. Eines der am besten abgesicherten Ergebnisse der Versorgungsforschung sei der Einsatz multiprofessioneller Teams, die im Lebensumfeld betreuen, behandeln und Krisen managen. Leitlinien würden multiprofessionelle gemeindepsychiatrische Teams, aufsuchende Behandlung und Behandlungsteams mit Verantwortung für medizinische und soziale Versorgung sowie Akutbehandlung zu Hause (home treatment) empfehlen.

Psychotherapie von Menschen mit schweren und chronischen Psychoseerkrankungen bedeute Langzeitbegleitung, therapeutisch qualifizierte kontinuierliche Begleitung über u.U. längere Zeiträume mit wechselndem Focus. Im Vordergrund stünden z.B. Stützung und Stabilisierung, Reduktion der Symptombelastung, Psychoedukation, Erarbeitung von Selbstschutzstrategien, Training sozialer Kompetenzen, Bearbeitung familiärer Konflikte und soziale Reintegration. Schwer und chronisch psychisch kranke Menschen erführen ambulante Unterstützung in Institutionen der gemeindepsychiatrischen Grundversorgung. Die würden in der Regel keine Psychotherapie vorsehen. Es bestehe oft ein relativ unverbundenes Nebeneinander von (medizinischem) Behandlungssystem (SGB V) und dem System der gemeindepsychiatrischen Versorgung (SGB XII). Integrierte Versorgung biete eine Basis für Verhandlungen über innovative ambulante Modelle psychiatrischer Versorgung und die Chance, Psychotherapie zum regelhaften Bestandteil der Versorgung schwer psychisch kranker Menschen zu machen. Integrierte Versorgung könne zusätzliche Behandlungskapazitäten außerhalb der limitierten Regelversorgung schaffen.

Prof. Dr. Jürgen Margraf von der Ruhr-Universität Bochum begann seinen Vortrag über die Versorgung psychisch kranker Menschen mit der Stigmatisierung seelischer Leiden. Bei dieser Stigmatisierung würde das Personenmerkmal „psychisch krank“ zu einem sozial negativen Zeichen („nicht normal“, „gefährlich“). Während man sich um körperlich Kranke besonders kümmere, erführen psychisch Kranke einen Statusverlust und eine Diskriminierung ihrer Person und ihres Leidens. Die weitreichende Skepsis gegenüber psychischen Erkrankungen sei selbst unter Psychiatern und Psychologen gut belegt, nicht zu vergessen die Abwertung und Stigmatisierung, mit der psychisch Kranke sich selbst belegen würden. Diese Stigmatisierung führe noch heute in den USA zu Einschränkungen der Grundrechte. Psychisch Kranke dürften dort in vielen Staaten weder wählen, heiraten oder das Sorgerecht für ihre Kinder beanspruchen.

Psychische Krankheiten seien alltägliche Erkrankungen und weit häufiger, als allgemein angenommen. Immer noch aber fehlten ambulant und stationär ausreichend Behandlungsplätze. Psychische Störungen würden weltweit zu den wichtigsten Gründen für Beeinträchtigungen und Tod gehören. Sie würden früher beginnen und chronischer verlaufen als lange angenommen. Über 50 Prozent der psychischen Störungen würden vor dem 14. Lebensjahr beginnen, 50 bis 80 Prozent der Depressionen, Angst- und Essstörungen würden sich als chronisch erweisen. Psychische Störungen seien Krankheiten, die zu schweren Beeinträchtigungen führen, bei denen Komorbidität die Regel und nicht die Ausnahme sei, und die ein hohes individuelles Leid verursachen würden. Psychische Krankheiten würden aber aktuell vor allem deshalb in den Focus geraten, weil sie zu einer hohen Anzahl von Fehltagen an Arbeitsplätzen und hohen Kosten in der Kranken-, Rentenversicherung und in den Unternehmen führen würden. Für die Behandlung psychischer Erkrankungen stünde mit der Psychotherapie eine sehr wirksame Behandlungsmethode zur Verfügung, die auch nicht den Vergleich mit der Behandlung körperlicher Erkrankungen scheuen müsse. Psychotherapie habe insgesamt ein positives Kosten-Nutzen-Verhältnis, sie verringere die medizinischen Kosten, führe nach ein bis fünf Jahren zu Nettoeinsparungen und sei effektiver als medikamentöse Therapie.

In der abschließenden Podiumsdiskussion, die die WDR-Journalistin Sabine Brandi moderierte, diskutierten Akteure der Gesundheitspolitik die Versorgungsrealität in NRW. Bernhard Brautmeier, Vorstand der KV Nordrhein, sah in den Wartezeiten einen „eindeutigen Indikator für eine ungenügende Versorgungsrealität“. Die Bedarfsplanung verdiene ihren Namen nicht, weil nie ein tatsächlicher Bedarf ermittelt worden sei. Er sagte voraus: „Die Sonderregion Ruhrgebiet wird verschwinden.“ Andreas Hustadt, Leiter der NRW-Vertretung des Verbandes der Ersatzkassen, berichtete, dass seine Kassen bereits rund fünf Millionen Euro für Psychotherapie in der Kostenerstattung ausgeben würden. Das müsse geändert werden. „Wir müssen die psychotherapeutische Versorgung in die Fläche bringen“, erklärte Hustadt. Dabei ginge es auch um die bessere Ausschöpfung von Kapazitäten und kürzere Therapien. „Die Psychotherapeuten müssen effektiver werden. Dennoch brauchen wir auch mehr Psychotherapeuten.“ Dr. Klaus Reinhardt, Vizepräsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe, befürwortete, mit einer örtlichen psychotherapeutischen Praxis zusammenzuarbeiten. „Das kann ich nur empfehlen.“ Nicht alle Lebensprobleme würden allerdings einen psychotherapeutischen Bedarf darstellen.“ Dr. Julius Siebertz vom NRW-Gesundheitsministerium betonte, dass es bei psychischen Störungen ambulant kein Auffangen der großen Krankheitslasten mehr gebe. „Diese schlagen voll auf die stationäre Versorgung durch.“ Dr. Eleftheria Lehmann, Patientenbeauftragte der Landesregierung NRW kritisierte, dass die Bürokratie in der Versorgung für psychisch kranke Menschen noch schwerer zu überwinden sei als für körperlich Kranke. „Wir haben unüberwindbare Hürden für diese Menschen aufgebaut.“ Besondere Probleme sah sie in der psychotherapeutischen Versorgung von Menschen mit Migrationshintergrund und in einer gendergerechten psychotherapeutischen Versorgung. Monika Konitzer, Präsidentin der Psychotherapeutenkammer NRW, mahnte, dass ohne zusätzliche psychotherapeutische Praxissitze die Unterversorgung von psychisch kranken Menschen in NRW nicht lösbar sei. „Die Unterversorgung im Ruhrgebiet ist Sache von NRW. Dagegen müssen wir uns einsetzen.“

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