16. Jahreskongress Psychotherapie Wissenschaft-Praxis

„Soziale Ungleichheit und psychische Gesundheit“ lautete das Schwerpunktthema des etablierten Jahreskongresses Psychotherapie Wissenschaft Praxis am 10. und 11. Oktober 2020. Der gemeinsam von Hochschulverbund Psychotherapie NRW und Psychotherapeutenkammer NRW (PTK NRW) veranstaltete Kongress fand angesichts der in der Corona-Pandemie notwendigen Schutzmaßnahmen in seinem 16. Jahr erstmals als Online-Kongress statt. Ermöglicht wurde diese Tagungsform durch die Bereitschaft des Hochschulverbundes, die dafür zur Akkreditierung durch die PTK NRW operationalisierten Ablauf- und Anforderungskriterien umzusetzen. Der Eröffnungsvormittag bot drei Impulsvorträge zum aktuellen Schwerpunktthema; anschließend standen in den zwei Kongresstagen 49 Online-Workshops zu Aspekten aus dem breiten Spektrum der psychotherapeutischen Arbeit bei Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen auf dem Programm. Insgesamt 280 Kongressbesucherinnen und Kongressbesucher wählten sich in die Vorträge ein und nahmen an den von ihnen gebuchten Online-Seminaren teil.

Handlungsfelder für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten

Prof. Dr. Jürgen Margraf, Dekan der Fakultät für Psychologie der Ruhr-Universität-Bochum, begrüßte die Kongressteilnehmenden und wies den diesjährigen Schwerpunkt als ein Thema aus, das ihm persönlich sehr am Herzen liege. Gerd Höhner, Präsident der PTK NRW, stellte in seiner Begrüßung die enge Verknüpfung von psychischem Befinden und sozialer Lebenssituation heraus. „Hätte es noch einen massenpsychologischen Beweis dafür gebraucht, so ist das die Corona-Situation, in der wir alle gemerkt haben, was die soziale Deprivation mit uns in unserem Leben verursacht.“ Allgemein gäbe es jedoch die Tendenz, diese Verbindung zu negieren oder zu banalisieren. Der Berufstand trage daher die Verantwortung, auf diese Zusammenhänge in aller Deutlichkeit aufmerksam zu machen – nicht zuletzt, um falsche Pathologisierungen zu verhindern. Weiterhin habe die Profession die Aufgabe, in den Behandlungen die Lebenswelt der Patientinnen und Patienten mitzudenken und ihnen auch in diesem Bereich Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen. Schließlich sollten Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten auf Ansätze zur Prävention drängen, betonte Gerd Höhner. „Es ist wenig sinnvoll, am Ende einer verkorksten Entwicklung die eingetretenen Schäden zu therapieren, ohne daraus Schlussfolgerungen zum Beispiel für bessere Angebote in Schulen und Kitas zu ziehen.“ Aktuell würde in NRW angesichts der jüngsten Missbrauchsskandale von Lügde oder Bergisch Gladbach auch die Struktur der Jugendhilfe umfangreich diskutiert. „Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten können hier beispielsweise einen Beitrag zu einer fachlich qualifizierten Aus-, Fort- und Weiterbildung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in diesem Bereich leisten“, hob der Kammerpräsident hervor.

Die soziale Seite psychischer Störungen

Prof. Dr. Jürgen Margraf stellte seinen Vortrag unter den Titel „Vernachlässigt und abgehängt – die soziale Seite psychischer Störungen.“ Anhand einer Vielzahl an Studien und Statistiken zeigte der Psychologische Psychotherapeut und Inhaber des Lehrstuhls für Klinische Psychologie und Psychotherapie in Bochum auf: Sowohl im Ländervergleich als auch in unterschiedlichen sozialen Schichten innerhalb eines Landes zeigten sich Unterschiede in der psychischen Gesundheit der in einer Gesellschaft lebenden Menschen. Probleme wie Angst und Depression beispielsweise seien in unteren sozioökonomischen Schichten weitaus häufiger als in oberen Schichten, einhergehend mit einem geringeren Grad an Resilienz. Dies sei auch im internationalen Vergleich ein stabiler Befund. Als zugrundeliegende Mechanismen definierte Prof. Dr. Jürgen Margraf unter anderem den Einfluss sozialer Beziehungen und die Auswirkungen eines niedrigen Bildungsgrades der Eltern auf den Bildungserfolg ihrer Kinder. Ebenso sei ein Negativdenken und das Gefühl, nicht glücklich zu sein, als ein „Mindset“ unterer sozialer Schichten zu erkennen. Auch dieser erweise sich als starker Prädiktor für psychische Beschwerden.

Zusammenfassend zeige sich, dass sich soziale Faktoren, vermittelt durch psychologische Variablen, bedeutend auf die psychische Gesundheit auswirken. Entsprechend erfolgsversprechend seien soziale Maßnahmen als Präventionsansätze. Eine zentrale Aufgabe sei zunächst, ein Problembewusstsein für diese Zusammenhänge zu schaffen und dem Negativdenken der Unterschicht entgegenzuwirken. Insbesondere für Kinder und Jugendliche gelte es, Ansätze zu finden – Benachteiligung setze früh ein und kumuliere sich über die Lebensspanne. Für kurzfristige Interventionen spiele die Psychotherapie eine besondere Rolle.

Unsichere Bindung als Folge sozialer Ungleichheit und Traumatisierung

PD Dr. Claudia Subic Wrana von der Psychoanalytischen Arbeitsgemeinschaft Köln-Düsseldorf widmete sich dem Thema „Unsichere Bindung als Folge sozialer Ungleichheit und Traumatisierung – Konsequenzen für die psychotherapeutische Praxis“. Die Psychologin und Psychotherapeutin erläuterte unterschiedliche Bindungsmuster als verinnerlichtes Repertoire von Erwartungen und Verhaltensweisen in Beziehungen, die auch für den Umgang mit akuten oder chronischen Belastungs- und Krisensituationen prägend seien. Der Bindungsstil werde von primären Bindungspersonen an deren Kinder weitergegeben. Hierbei gäbe es Hinweise darauf, dass auch die soziale Schicht die individuell vorliegende Bindungskategorie beeinflusse. Insgesamt zeige sich ein Zusammenhang zwischen Traumatisierung in den primären Beziehungen, sozialer Benachteiligung und verinnerlichter unsicherer Bindungserfahrung.

Im Zusammenhang mit körperlicher oder seelischer Krankheit komme insbesondere dem unsicher-vermeidenden Bindungsstil Bedeutung zu, erläuterte die Referentin. Unsicher gebundene Menschen könnten negative Affektzustände schlechter regulieren und hätten wenig soziale Unterstützung. Gleichzeitig sei ihre Neigung erkennbar, keine Hilfe zu suchen und Selbstfürsorge zu vernachlässigen. Häufig würden Patientinnen und Patienten mit diesem Bindungsstil aufgrund körperlicher Leiden wie chronischer Schmerzen in die Therapie kommen. Als Behandlungsoption aus dem Bereich der Psychodynamik stellte PD Dr. Claudia Subic Wrana die psychodynamisch interaktionelle Therapie bei somatoformen Störungen (PISO) dar, die Betroffenen ein psychosomatisches Krankheitsmodell vermittelt. Wirksam sei auch der Ansatz, in der Behandlung „Symptom und Beziehung“ und „Symptom und soziale Interaktion“ in einen Zusammenhang zu setzen und damit die reine Bezogenheit auf das Symptom aufzulösen.

Was macht Menschen wirklich zufrieden?

Der dritte Vortrag von Prof. Dr. Martin Schröder von der Philipps-Universität Marburg verfolgte die Frage „Was macht Menschen wirklich zufrieden?“. Anhand der Daten einer Langzeitstudie mit 600.000 Befragungen des Deutschen Sozio-ökonomischen Panels blickte der Wirtschaftssoziologe auf verschiedene Parameter wie Geld, Gesundheit und soziale Kontakte und ihren Einfluss auf die empfundene Lebenszufriedenheit. Lange Zeit sei man bei möglichen Zusammenhängen von einem „Setpoint“ eines Individuums ausgegangen. Dieser Therorie zufolge würde ein Mensch nach positiven ebenso wie nach negativen Lebensereignissen über kurz oder lang zum vorherigen individuellen Zufriedenheitsniveau zurückkehren.

Neuere Auswertungen ließen jedoch erkennen, dass sich die Zufriedenheit eines Menschen langfristig verändere, stellte der Referent dar. Hierbei ginge man aktuell von einer Dreiteilung aus: Ein Drittel des Zufriedenheitsgrades sei genetisch festgelegt, ein Drittel durch einschneidende Lebensereignisse wie Heirat, Geburt der Kinder oder Tod eines nahestehenden Menschen kurzfristig veränderbar, ein Drittel durch langfristige Entscheidungen erklärbar. Ein Beispiel für langfristig wirksame Parameter sei Bildung. Darüber hinaus würden sich Faktoren abzeichnen, die einen Menschen dauerhaft belasten. Beispiele hierfür seien Krankheit und Arbeitslosigkeit.

Meldungen abonnieren