Bessere Versorgung von ADHS-Kindern und AOK-Vertrag Veranstaltung am 6. Oktober 2010 in Düsseldorf

Kinder und Jugendliche, die an einer Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) leiden, sollen im Rheinland zukünftig sorgfältiger diagnostiziert und besser behandelt werden – das forderten die Psychotherapeutenkammer Nordrhein-Westfalen, die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein und der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte auf einer gemeinsamen Veranstaltung am 6. Oktober in Düsseldorf. Dort wurde auch der neue ADHS-Versorgungsvertrag mit der AOK Rheinland/Hamburg vorgestellt, der insbesondere psychosoziale Interventionen zusätzlich honoriert, einen strengeren, leitliniengerechten Einsatz von Medikamenten vorschreibt und eine bessere Kooperation von Ärzten und Psychotherapeuten anstrebt. Das Interesse an der Veranstaltung war enorm: Insgesamt nahmen 241 Psychotherapeuten und Ärzte an der ausgebuchten Veranstaltung teil.

Zahlen und Fakten

Nach den Ergebnissen des nationalen Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KiGGS) erkranken 4,8 Prozent der deutschen Kinder und Jugendlichen an ADHS. Weitere 4,9 Prozent gelten als Verdachtsfälle. Bei Jungen (7,9 %) wird ADHS viermal häufiger als bei Mädchen (1,8 %) diagnostiziert. Im Grundschulalter (7 – 10 Jahre) steigt die Diagnosehäufigkeit stark an. Im Alter von 11 bis 17 Jahren wurde bei jedem zehnten Jungen und jedem 43. Mädchen ADHS diagnostiziert. ADHS kommt bei Kindern aus Familien mit niedrigem sozialen Status (6,4 %) doppelt so häufig vor wie bei Kindern aus Familien mit hohem sozialen Status (3,2 %). Auffälligkeiten lassen sich bei Kindern und Jugendlichen, die an ADHS erkranken, bis ins Säuglings- und Kleinkindalter zurückverfolgen (z.B. Schreibabys). Ab dem Kindergartenalter fallen diese Kinder durch motorische Unruhe und Unfähigkeit zu ruhigen Beschäftigungen oder anhaltendem konzentriertem Spiel auf. Im Grundschulalter können sie sich nur kurz konzentrieren und sind leicht abzulenken. ADHS-Kinder bleiben oft hinter ihrer eigentlichen Leistungsfähigkeit zurück. Im Jugendalter gehen die Symptome der motorischen Unruhe zum Teil zurück, während die Aufmerksamkeitsstörungen weiterhin bestehen bleiben. Bei 30 bis 50 Prozent der Erkrankten setzt sich die Störung im Erwachsenenalter – bei veränderten Symptomen – fort, so die KiGGS-Ergebnisse. ADHS-Kinder fallen meist aufgrund ihrer negativen Eigenschaften auf. Viele Kinder mit ADHS sind aber auch charmant, ideenreich, aufgeschlossen, fröhlich, hilfsbereit, lustig, kreativ, fürsorglich, aufgeweckt, phantasievoll, flexibel, tierlieb, empfindsam, interessiert, gutmütig, ehrlich und großherzig.

Nach einem Bericht des Landesinstituts für Gesundheit und Arbeit in Nordrhein-Westfalen (LIGA NRW) sind hyperkinetische Störungen (ADS/ADHS) in NRW die zweithäufigste ambulante Behandlungsdiagnose bei den psychischen Erkrankungen. Im Jahr 2008 erkrankten danach fast 95.000 Kinder und Jugendliche bis 15 Jahre an hyperkinetischen Störungen. Daraus ergibt sich eine Behandlungsrate von 3,7 Prozent, in der am stärksten erkrankten Altersgruppe der 5- bis 9-jährigen Kinder von 5,3 Prozent. Zwischen 2005 und 2008 stieg die Zahl der ambulanten Behandlungsdiagnosen um 46 Prozent. Rund 1,3 Prozent der ambulant behandelten Kinder werden wegen dieser Diagnose auch einmal in ein Krankenhaus aufgenommen. 2008 waren dies 1.237 Kinder und Jugendliche bis 15 Jahre.

Zu der Verordnung von Psychopharmaka und ADHS stellt der LIGA-Bericht fest: Die Verordnungshäufigkeit von Psychopharmaka hat in der Bundesrepublik in den vergangenen 15 Jahren stark zugenommen. Diese Zunahme wurde im Wesentlichen durch den Anstieg von Verordnungen von Methylphenidat zur ADHS-Behandlung verursacht. Die Diskussion über die Verordnungsmengen ist geprägt von der Frage, ob mit der Verordnung von Methylphenidat ggf. leichtfertig versucht wird, mit diesen Arzneimitteln eine Verbesserung der Auffälligkeiten von Heranwachsenden herzustellen, ohne dass eine ausreichende Diagnose vorliegt.

Die AOK Rheinland/Hamburg verzeichnet jährlich rund 12.000 Kinder und Jugendliche mit einer ADHS-Diagnose. Davon wurde  bei etwa 9.000 Kindern und Jugendlichen eine gesicherte Diagnose vergeben, bei etwa 3.000 ist die Diagnose nicht gesichert. Bei einem Drittel der ungesicherten Diagnosen  wird dennoch nicht leitlinienkonform eine Arzneimitteltherapie vorgenommen, so die AOK Rheinland/Hamburg. ADHS-Kinder und Jugendliche kosten die AOK jährlich über elf Millionen Euro: 55,5 Prozent stationär, 23,1 Prozent ambulant, 21,4 Prozent für Arzneimittel.

Multimodale Versorgung

Leitlinien empfehlen eine multimodale ADHS-Therapie. Diese umfasst:

  • Aufklärung und Beratung der Eltern, des Kindes oder Jugendlichen und der Erzieher bzw. Lehrer,
  • Elterntraining und Familientherapie,
  • Interventionen im Kindergarten oder in der Schule,
  • Psychotherapie des Kindes oder Jugendlichen,

Pharmakotherapie unter sorgfältiger Abwägung des Nutzens und der Risiken, bei Kindern unter sechs Jahren grundsätzlich erst dann, wenn andere Interventionen ohne Erfolg geblieben sind.

Prof. Dr. Manfred Döpfner (Uniklinik Köln; „zentrales adhs-netz“), gab auf der Düsseldorfer Veranstaltung einen Überblick über die Forschung zur ADHS-Behandlung. ADHS ist danach eine häufige, stabile und schwer zu behandelnde Erkrankung des Kindes- und Jugendalters. Mit ADHS ist überdurchschnittlich häufig das Risiko für weitere psychische Störungen verbunden. 30 bis 50 Prozent der ADHS-Kinder und Jugendlichen erkranken auch an einer oppositionellen oder dissozialen Verhaltensstörung, 20 bis 30 Prozent zeigen auch Lernstörungen und Teilleistungsschwächen, etwa 20 Prozent erkranken auch an Angststörungen, 15 Prozent an depressiven Störungen und 10 bis 20 Prozent an Tic–Störungen. Zu einer guten Diagnostik gehören nach Döpfner eine genaue Exploration von Eltern und Lehrern, eine Differentialdiagnostik vor allem zu Lernstörungen, Intelligenzminderungen und Störungen des Sozialverhaltens wie auch Komorbidität unbedingt beachtet werden sollte. Fragebögen könnten sehr hilfreich sein, reichten aber nicht aus. Apparative/videogestützte Diagnostik von ADHS-Symptomen könnte ergänzend hilfreich sein, sei aber nicht für eine Diagnose entscheidend. Häufig sei eine Intelligenz-/Teilleistungsdiagnostik nötig sowie eine internistische/neurologische Untersuchung.

Schwachpunkte der bisherigen ADHS-Behandlung seien:

  • kindzentrierte Verhaltenstherapien sind zu sehr betont,
  • Pharmakotherapie vor allem bzgl. Kurzzeiteffekte ist gut belegt aber nicht bzgl. Langzeiteffekte,
  • zusätzliche Effekte von Verhaltenstherapie bei Pharmakotherapie sind nicht durchgängig belegt,
  • Effekte tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie sind nicht belegt,
  • Integration von Pharmakotherapie in ein umfassendes Behandlungsmanagement mit umfassender Psychoedukation (und Verhaltenstherapie bei Bedarf) ist in der Praxis noch nicht durchgängig realisiert

Der Gemeinsame Bundesausschuss änderte am 16. September die Arzneimittelrichtlinie für die Verordnung von Methylphenidat. Danach ist es unzulässig, Kinder, die an einer Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) erkrankt sind, sofort medikamentös zu behandeln. Die geänderte Arzneimittel-Richtlinie schreibt jetzt vor, dass

  • eine Behandlung von ADHS ohne Medikamente beginnen muss,
  • Methylphenidat erst dann eingesetzt werden darf, wenn die nicht-medikamentöse Behandlung nicht erfolgreich ist,
  • Methylphenidat auch dann nur innerhalb einer therapeutischen multimodalen Gesamtstrategie eingesetzt werden darf, die neben pharmakologischen Maßnahmen insbesondere auch psychologische, pädagogische und soziale Therapiekonzepte nutzt,
  • die Behandlung unter Aufsicht eines Spezialisten für Verhaltensstörungen bei Kindern durchgeführt werden muss,
  • der medikamentöse Einsatz besonders zu dokumentieren ist, insbesondere bei einer Dauertherapie über zwölf Monate,
  • mindestens einmal jährlich die medikamentöse Behandlung unterbrochen und neu beurteilt werden muss,
  • die ADHS-Diagnose auf Kriterien der DSM-IV oder der ICD-10-Klassifikation beruhen muss.

Vertrag der AOK Rheinland/Hamburg

Zentrales Thema der Düsseldorfer Veranstaltung war der neue Versorgungsvertrag der AOK Rheinland/Hamburg, der am gleichen Tag der Presse vorgestellt wurde. Der neue Vertrag für Kinder und Jugendliche von sechs bis 17 Jahre beinhaltet vor allem eine verbesserte Diagnostik, Elternschulungen, eine koordinierte Zusammenarbeit von Ärzten und Psychotherapeuten, einen leichteren Zugang zu psychotherapeutischer Behandlung und einen streng kontrollierten Medikamenteneinsatz. In den Vertrag sind sowohl Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten als auch Psychologische Psychotherapeuten mit einer entsprechenden Zusatzqualifikation einbezogen. Der Vertrag gliedert sich in einen Haupt- und einen Modulvertrag. Mehr Informationen und der Wortlaut der Vertragsbestandteile sind auf der Homepage der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein (www.kvno.de) zu finden.

Cornelia Prüfer-Storcks, Mitglied des Vorstandes der AOK Rheinland/Hamburg, erklärte: „Wir suchen die Zusammenarbeit mit besonders erfahrenen Kinder- und Jugendärzten und Psychotherapeuten, um die Versorgung der Kinder und Jugendlichen deutlich zu verbessern. Im Vordergrund steht mehr Zeit für die Patienten und ihre Familie statt vorschneller Medikamentengabe.“ „Die von ADHS betroffenen Kinder brauchen ein umfassendes Betreuungskonzept“, so Bernd Brautmeier, Vorstand der KV Nordrhein. „Der neue Vertrag sieht daher eine enge Zusammenarbeit zwischen Pädiatern und Psychotherapeuten vor. Auch die Eltern werden einbezogen.“ „Der Kinder- und Jugendarzt ist die erste Anlaufstelle für betroffene Kinder und ihre Eltern“, betonte Dr. Thomas Fischbach, Vorsitzender des Landesverbandes Nordrhein der Kinder- und Jugendärzte. Er übernehme daher die Koordinierung der Behandlung. Die Kinder und Jugendlichen würden dazu in den Vertrag eingeschrieben. „Zu wenige Kinder bekommen die notwendige abgestimmte psychosoziale Betreuung, zu wenige eine Psychotherapie“, sagte Bernhard Moors, Sprecher des Bündnisses Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, KJP. „Wir begrüßen, dass Patienten in diesem Vertrag sich auch direkt an einen Psychotherapeuten ihres Vertrauens wenden und ihn zum festen Ansprechpartner wählen können.“

Die Veranstaltung schloss mit einer Diskussionsrunde, die von Wolfgang van den Bergh, Chefredakteur der Ärzte Zeitung, moderiert wurde. Benedikta Enste, niedergelassene Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Engelskirchen, hielt fest, dass alle Versorger verpflichtet seien, sich auszutauschen und einen Dialog zu führen, z.B. in Fallkonferenzen und Qualitätszirkeln. Kontroversen sollten nicht auf dem Rücken der Patienten passieren. Enste schildere positive Erfahrungen im unbürokratischen Austausch über unterschiedliche Berufsgruppen hinweg. Zentral sei der gegenseitige Respekt voreinander. Dr. Alexander von Stülpnagel, niedergelassener Kinder- und Jugendarzt und -psychiater, Krefeld, nahm besonderen Bezug auf die Rahmenbedingungen der Kooperation. Wenn man nicht weiterkomme, solle man auch mal jemand mit einem anderen Blickwinkel die Sache betrachten lassen. Engelbert Kölker, niedergelassener Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Essen, verwies darauf, über die Leitlinien miteinander in den Dialog zu kommen. Diese müssten auf die individuelle Situation übertragen werden. Man schöpfe aus ähnlichen Erfahrungen mit den gleichen Patienten, eine Ressource, die es zu intensivieren gelte, z.B. durch gegenseitige Telefonkontakte. Intensiv wurden darüber hinaus Details des nordrheinischen ADHS-Vertrags und insbesondere Fragen der Vergütung und Vernetzung diskutiert. 

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