„Es braucht Mut auf beiden Seiten“ – Ein Rückblick auf die Veranstaltung „Psychotherapie für Menschen mit Intelligenzminderung“ der PTK NRW am 04.10.2017

Nach der Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen soll ihnen dieselbe Bandbreite und Qualität der Gesundheitsversorgung zur Verfügung stehen wie Menschen ohne Behinderung. Darüber hinaus sind speziell auf die jeweilige Behinderung ausgerichtete Angebote zu garantieren (Artikel 25 der UN-Behindertenrechtskonvention). Tatsächlich wird im Bereich der psychischen Erkrankungen die aktuelle Versorgung dem Bedarf der Menschen mit Behinderungen jedoch nicht gerecht. Obwohl Studien belegen, dass Menschen mit einer Intelligenzminderung von einer Psychotherapie profitieren können, sind ambulante Behandlungen für sie häufig nicht erreichbar. Wo die Gründe dafür zu suchen sind und was die unzureichende Versorgungslage bessern könnte, stand im Fokus der Veranstaltung „Blickpunkt Seelische Gesundheit: Psychotherapie für Menschen mit Intelligenzminderung – Chancen & Perspektiven“ der Psychotherapeutenkammer NRW (PTK NRW) am 4. Oktober 2017 in Neuss. Unter den rund 60 Teilnehmern waren Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, Vertreterinnen und Vertreter aus Versorgungseinrichtungen, von Krankenkassen und Ministerien sowie aus der Selbsthilfe.

„Die Sprachlosigkeit überwinden“

„Die Geschichte der Menschen mit veränderter intellektueller Leistungsfähigkeit – bereits die Begrifflichkeit ist nicht leicht, Intelligenzminderung ist ein Terminus des Gesundheitswesens – war in den letzten 100 Jahren vor allem eine Geschichte der Ausgrenzung“, betonte Gerd Höhner, Präsident der PTK NRW, in seiner Begrüßung. „Lange bestand die Ansicht: Menschen, die zu höherer Einsicht nicht fähig sind, können von einer Psychotherapie nicht profitieren.“ Diese Auffassung sei zwar seit 30 Jahren überwunden. Im System sei das vielfach jedoch noch nicht angekommen. Es gäbe weiterhin Fälle, in denen Gutachter eine Therapie mit Verweis auf eine bestehende Intelligenzminderung ablehnen, so Gerd Höhner. „Wir sind heute oftmals nicht wirklich weit von Ausgrenzung entfernt.“ Mit der Psychotherapie-Richtlinie habe sich das nicht verbessert, bemängelte der Kammerpräsident. So würde dort unter anderem nicht berücksichtigt, dass die Arbeit mit intelligenzgeminderten Menschen in einer anderen Geschwindigkeit verläuft und mehr Zeit braucht. „Mit unserer Veranstaltung möchten wir dazu beitragen, die häufig anzutreffende Sprachlosigkeit zu überwinden. Psychotherapie kann hierbei sehr hilfreich sein. Ebenso müssen wir die Richtlinien an dieser Stelle klar kritisieren und unsere Kritik publik machen.“

Grußwort der Bundesbeauftragten

Verena Bentele, die Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, kam in ihrem Grußwort auf Barrieren in den Köpfen und bestehende Kommunikationshindernisse zu sprechen. Des Weiteren thematisierte sie Ansätze für eine flächendeckende Versorgung, Inklusion als Thema in Ausbildung und Studium, die Rolle von Psychotherapie in der Versorgung von Menschen mit Behinderungen sowie die dafür – auch für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten – notwendigen Strukturen.

„Subjektive Gesundheitsressourcen stärken“

Impulse aus einer anderen Perspektive setzte Prof. Dr. Rolf Rosenbrock, Vorsitzender des Paritätischen Gesamtverbandes e.V., in seinen Ausführungen über „Gesundheit und Selbstbestimmung.“ Er beschrieb mit Partizipation als Teilhabe an Entscheidungen einen Weg, subjektive Gesundheitsressourcen wie ein stabiles Selbstwertgefühl oder die Erfahrung von Gegenseitigkeit in stabilen Beziehungen zu stärken. „Es ist empirisch belegt, dass sich die subjektiven Gesundheitsressourcen verändern lassen“, informierte der Berliner Gesundheitswissenschaftler. „Mit dem Präventionsgesetz von 2015 hat dieses Thema Eingang in ein Bundesgesetz gefunden; der zentrale Ansatz ist, ‚Gesundheitsförderung im Setting’ durch ein ‚gesundheitsförderndes Setting’ abzulösen.“ Partizipation sei zudem kein „entweder/oder“, sondern ein Entwicklungsprozess, legte Rolf Rosenbrock dar. Kritische Selbstreflexion und eine erfolgreiche Zusammenarbeit der Akteure vor Ort kennzeichnete er als förderlich, um Partizipation in Projekten zu Gesundheitsförderung und Prävention weiterzuentwickeln. Dabei sei Partizipation abhängig von den jeweiligen Projekt- und Lebensbedingungen der Zielgruppe unterschiedlich realisierbar und es gelte, die jeweils passende Stufe zu finden. Mehr Partizipation führe schließlich zu mehr Gesundheit.

„Es bestehen Berührungsängste“

Alle psychotherapeutischen Schulen haben Zugänge, um mit Menschen mit geistiger Behinderung zu arbeiten“, hielt Christian Janßen fest, der als Psychologischer Psychotherapeut in den v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel in Bielefeld und im Rahmen einer KV-Ermächtigung mit Menschen mit geistiger Behinderung arbeitet. „De facto machen jedoch wenige niedergelassene Therapeutinnen und Therapeuten Angebote – oft bestehen Berührungsängste, so wie in der Bevölkerung auch.“ Neben einem Blick auf die Gemeinsamkeiten hinsichtlich Setting und Vorgehen erläuterte Janßen die Besonderheiten bei der Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung. So sei die regelhafte Einbeziehung Beteiligter anderer Berufsgruppen oder von Personen aus dem Umfeld der Klienten notwendig. Ein hoher Anteil der Arbeit sei aufsuchend, das therapeutische Vorgehen kleinschrittig zu gestalten. „Die Psychotherapie-Richtlinie lässt hinsichtlich der notwendigen Flexibilität im Vorgehen und in der Dauer der Prozesse jedoch nicht ausreichend Raum“, kritisierte Christian Janßen. „Auch bei der Abrechnung werden die Besonderheiten von Therapien mit dieser Personengruppe nicht berücksichtigt.“ Neben Hinweisen, wie interessierte Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten im Rahmen der bestehenden Regelungen ihre Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung gestalten können, regte Janßen an, sich stärker zu vernetzen. Kompetenznetze, Vermittlungsstellen, Fortbildungen und Ermächti-gungen könnten die Profession darin bestärken, sich diesen Klienten zu öffnen.

„Es braucht mehr Zeit“

Die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Silke Sacksofsky aus Reutlingen arbeitet mit Kindern und Jugendlichen mit Intelligenzminderung und hielt fest: „Wir haben eine große therapeutische Bandbreite und es braucht kein Spezialistentum, um mit diesen Kindern und Jugendlichen zu arbeiten. Trotzdem trauen sich viele Kolleginnen und Kollegen das nicht zu. Ich möchte Ihre Neugier auf dieses Thema lenken. Der Mangel in der Versorgung der Betroffenen wäre leicht zu beheben, wenn jeder von uns zwei von ihnen in Behandlung nehmen würde.“ Die meisten ihrer Klientinnen und Klienten kämen als Jugendliche in die Therapie, informierte Silke Sacksofsky. „Sie stellen nun fest, dass sie nicht so können wie andere. Sie leiden daran, mit sich selbst nicht zufrieden zu sein und sich nicht leiden können. Zusätzlich nimmt das Umfeld die Kinder, die vorher als ‚goldig’ oder ‚süß’ galten, jetzt zunehmend als ‚behindert’ wahr.“ Anhand zweier Fallbeispiele aus ihrer Praxis schilderte die Therapeutin ihr Vorgehen hinsichtlich Kontaktaufnahme und Beziehungsaufbau. Sie stellte dar, mit welchen therapeutischen Methoden sich mögliche Ursachen für Probleme und Verhaltensweisen aufdecken lassen und wie Lösungsansätze für die Betroffenen und ihr Umfeld ausgearbeitet werden können. „Die therapeutische Arbeit ist dabei die gleiche wie die mit nicht behinderten Kindern und Jugendlichen; sie braucht nur mehr Zeit“, bilanzierte Silke Sacksofsky. „Ich erlebe sie als äußerst vielfältig und mein Spektrum erweiternd.“

„Auch das Umfeld berücksichtigen“

In einer Podiumsdiskussion begrüßte die Kammer neben den Referenten des Tages als weitere Gäste Annette Schlatholt, Geschäftsführerin der Landesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe NRW e. V., und Prof. Dr. Michael Seidel, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für seelische Gesundheit bei Menschen mit geistiger Behinderung e.V. Hinsichtlich der Versorgung von Menschen mit geistiger Behinderung fehle es an Übung – auf beiden Seiten, konstatierte Annette Schlatholt. „In vielen medizinischen Bereichen stoßen wir auf Angst vor Menschen mit Behinderung. Neben dem Abbau von baulichen und kommunikativen Barrieren gilt es vor allem, diese inneren Barrieren zu überwinden. Wir brauchen den Mut, auf die Betroffenen offensiv zuzugehen und uns mit ihnen auseinanderzusetzen, um sicherer im Umgang zu werden.“ Menschen mit Intelligenzminderung und Angehörige müssten in der gesundheitlichen Versorgung die gleichen Angebote offenstehen wie allen Menschen. „Häufig ist die Therapie auch notwendig, um Inklusion zu lernen und zu erkennen, welche Wünsche jemand eigentlich hat“, sagte Annette Schlatholt.

Michael Seidel bekräftigte aus seiner Sicht den eklatanten Mangel an psychotherapeutischer Versorgung für Menschen mit geistiger Behinderung, wobei die Unzulänglichkeiten in der Versorgung dieser Personengruppe das gesamte Gesundheitssystem betreffen würden. Seidel machte darüber hinaus deutlich, dass in vielen Fällen die Psychotherapie für Menschen mit geistiger Behinderung auf die Unterstützung durch Angehörige oder professionelle Begleiter aus Diensten und Einrichtungen angewiesen ist. „Wenn hier die Eingliederungshilfe nicht mehr greifen kann, dann wird es sehr schwierig“, warnte der Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie im Hinblick auf die sehr ernst zu nehmende Befürchtung, mit dem stufenweisen Wirksamwerden des Bundesteilhabegesetzes könnte schrittweise die Unterstützung der Eingliederungshilfe bei der Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen entfallen. Wichtig sei etwa, dass die Psychotherapeutin bzw. der Psychotherapeut wenn erforderlich Zeit auch in das personelle Umfeld der Betroffenen, in dessen Instruktion und Einbeziehung investiert. „Die Betroffenen können das in der Therapie Gelernte oft nicht alleine generalisieren, sondern benötigen dazu die Unterstützung ihrer sozialen Umwelt.“ Zusätzlich sprach sich Michael Seidel dafür aus, die Versorgung von Menschen mit geistiger Behinderung neben der psychotherapeutischen Regelversorgung für besonders komplexe und komplizierte Aspekte durch Spezialisten, etwa in den künftigen Medizinischen Versorgungszentren für Erwachsene mit geistiger oder Mehrfachbehinderung, zu ergänzen. Unbedingt müssten die Psychotherapeutenkammern darauf drängen, das Thema der psychotherapeutischen Versorgung von Menschen mit geistiger Behinderung stärker in den Universitäten, in deren Lehre und Forschung, und in den Curricula der Weiterbildungsinstitute zu verankern.

„Wir werden uns damit beschäftigen“

Gerd Höhner fasste am Ende der informativen und lebendigen Veranstaltung zusammen: „Wir haben gesehen, wo Potenziale, aber auch Probleme in der psychotherapeutischen Versorgung von Menschen mit Intelligenzminderung bestehen. Unsere Profession besitzt die Kompetenz, sich dem Versorgungsauftrag zu widmen und es gibt genug Kolleginnen und Kollegen – ich möchte sie anregen, mutiger zu werden und Angebote zu machen.“ Allerdings müsse man auch dafür sorgen, dass im System Besonderheiten wie ein höherer Zeitaufwand angemessen berücksichtigt werden und eine angemessene Abrechnung möglich ist. „Als Kammer werden wir uns damit vielfältig beschäftigen. Wir werden den Versorgungsmangel in die Öffentlichkeit bringen. Wir müssen die Richtlinien angehen, auch wenn wir an viele Türen klopfen müssen. Ebenso gilt es, die Vernetzung der Ange-botsseite zu fördern und bei einer Ausbildungsreform die erforderlichen Inhalte in die von uns zu gestaltende Weiterbildung einzubringen.“

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