Fachtag rückte „Die psychischen Folgen der Corona-Pandemie bei Kindern und Jugendlichen und deren Familien“ in den Fokus

Wie sind Kinder, Jugendliche und ihre Familien durch die Corona-Pandemie gekommen? Wie hat das Pandemiegeschehen die psychotherapeutische Versorgung beeinflusst? Welche Handlungsbedarfe lassen sich daraus ableiten? Diesen Fragen widmeten sich Expertinnen und Experten unterschiedlicher Disziplinen bei dem Fachtag „Die psychischen Folgen der Corona-Pandemie bei Kindern und Jugendlichen und deren Familien“ der Psychotherapeutenkammer Nordrhein-Westfalen am 12. November 2022. Der online umgesetzte Fachtag ging auf die Initiative des Kammervorstands mit dem Ausschuss „Psychotherapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen“ der Kammer zurück. Vorstandsmitglied Cornelia Beeking und der Ausschussvorsitzende Oliver Staniszewski moderierten die Veranstaltung. In 214 Anmeldungen und einer ganztätig hohen Teilnehmendenzahl spiegelte sich das große Interesse am Tagungsthema. 

„Es braucht ein neues gesellschaftliches Paradigma“

Gerd Höhner, Präsident der Psychotherapeutenkammer Nordrhein-Westfalen, begrüßte die Teilnehmenden, die Referierenden und Josefine Paul, Ministerin für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen, die für ein Grußwort zugeschaltet war. Dem Ausschuss der Kammer dankte er für die Mitwirkung bei der Vorbereitung des Fachtages. Besonderen Dank richtete er an Cornelia Beeking und Oliver Staniszewski für ihr Engagement im Vorfeld der Veranstaltung. 

Viele Medienanfragen habe die Psychotherapeutenkammer Nordrhein-Westfalen erhalten, als mit der Pandemie Maßnahmen wie Lockdowns und Kontaktbeschränkungen erforderlich wurden. Wie man aus Sicht der Profession die damit verbundenen psychischen Belastungen aus der Welt schaffen könne, sei er häufig gefragt worden.

Gerd Höhner führte aus, dass er hierzu von Beginn an betont habe, dass es für gesellschaftliche Herausforderungen keine kleinen, schnellen Lösungen gäbe. Zudem sei deutlich geworden: Die Frage, wie diese Ausnahmesituation sich auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen auswirkt, wurde im Grunde nicht gestellt. Familien seien mit dieser Problematik im wahrsten Sinne hinter verschlossenen Türen und Fenstern allein gelassen worden, nach der Devise „die Mütter werden es schon richten.“ Dies habe gezeigt, dass die Gesellschaft mit der eigentlichen Herausforderung, mit ihrer Hilflosigkeit angesichts dieser Virusgewalt, nicht habe umgehen können.

Diese Hilflosigkeit werde bleiben, konstatierte Gerd Höhner. Sie gelte auch für andere Herausforderungen, etwa die Klimadiskussion. Man sei bei den aktuellen Krisen mit einer gänzlich neuen Dimension gesellschaftlicher und persönlicher Herausforderungen konfrontiert und unser „Alles ist machbar“-Denken sei nicht mehr anwendbar. Vielmehr brauche es ein neues gesellschaftliches Paradigma. Dabei müsse man sich aktiv um die psychische Gesundheit kümmern. Während viel für Maßnahmen zum Erhalt der körperlichen Gesundheit getan werde, gäbe es kaum Ansätze, die psychische Gesundheit zu stärken. Psychische Gesundheit sei jedoch zentral, um für die zu erwartenden Herausforderungen gesellschaftlich und individuell „fit“ zu sein. Der Berufsstand mahne seit längerem an, sich mit diesem Thema beispielsweise auch in den Schulen zu befassen. Bisher habe man hierzu allenfalls freundliche Nachdenklichkeit erfahren. Aber es sei an der Zeit, sich mit den aktuellen und kommenden Herausforderungen anders auseinanderzusetzen als bisher.

Psychische Gesundheit in den Blick rücken

Ministerin Josefine Paul bezeichnete den Fachtag als eine „Veranstaltung zur richtigen Zeit“. Er greife ein zentrales Thema auf, über das man mehr sprechen und mehr wissen müsse. Sie dankte der Profession für ihr berufliches Engagement und für ihre wichtige gesellschaftliche Aufklärungsarbeit. Auch die Landesregierung habe die psychischen Folgen der Pandemie für Kinder, Jugendliche und Familien und die daraus resultierenden Erfordernisse im Blick. Die Corona-Pandemie stecke der Gesellschaft, den Familien und insbesondere den Kindern, Jugendlichen und Müttern noch sehr in den Knochen, hielt die Politikerin fest. In Gesprächen mit Kindern und Jugendlichen erlebe sie bei Vielen eine tiefsitzende Enttäuschung darüber, wie wenig man sie in der Krise gesehen und wie wenig man auf das gehört habe, was sie als Expertinnen und Experten in eigener Sache hätten beitragen können. Die Ausnahmesituation habe gezeigt: Kinder und Jugendliche seien bereit, viel für die Gesellschaft zu leisten und solidarisch zu sein. Dafür würden sie gesellschaftliche Anerkennung und Wertschätzung verdienen sowie eine Diskussion über ihre Bedarfe auf Augenhöhe. Gleiches gelte für viele Mütter, die sich bis zur völligen Erschöpfung verausgabt hätten, um „den Laden am Laufen zu halten“. Man habe die Grundhaltung „Mutti wird’s schon richten“ erlebt, bestätigte die Ministerin Gerd Höhner. Von der notwendigen Debatte über die ungleiche Verteilung von Care-Arbeit in der Gesellschaft sei wenig zu hören.

Die daraus resultierende Wut und der Frust insbesondere bei vielen jungen Menschen und Frauen dürften nicht bestehen bleiben, die gesellschaftliche und politische Antwort auf diese Pandemie könne kein „Weiter so“ sein, unterstrich auch Ministerin Josefine Paul. Die dringend notwendige Aufarbeitung der Pandemie habe aus ihrer Sicht gerade erst begonnen. Dazu gehöre, den Blick verstärkt auch auf die psychischen Folgen zu lenken und Lehren für die Bedeutung von mentaler Gesundheit für eine resiliente Gesellschaft zu ziehen. Es könne nicht sein, dass Einschränkungen durch ein gebrochenes Bein offenkundig akzeptiert würden, aber eine „gebrochene Seele“ weiterhin ein Tabuthema sei.

Gemeinsam handeln

Cornelia Beeking erläuterte einführend der Fachtag greife auf, dass Corona und die Folgen aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden müssten. In der intensiven Beschäftigung mit diesem Thema hätten sich rasch Fachleute unter anderem aus der Psychotherapie, Psychologie, Pädagogik, Pädiatrie, Virologie und Infektiologie vernetzt. Aus diesem Zusammenwirken sei eine interdisziplinäre Stellungnahme „Kinder in der Pandemie“ entstanden, die ein gemeinsames Handeln in den Bereichen Infektionsschutz und psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen fordere. Auch Referentinnen und Referenten des Fachtages hätten an dem Positionspapier mitgearbeitet. Die 2021 veröffentlichte Stellungnahme habe viel Unterstützung gefunden und sei in die Arbeit des Corona-Expertenrats der Bundesregierung eingeflossen. Angesichts neuer, zusätzlicher Belastungen wie Krieg, Energiekrise und Inflation seien Hilfen für Kinder, Jugendliche und Familien auf unterschiedlichen Ebenen nun umso wichtiger.

Das Strategiepapier der Ostdeutschen Psychotherapeutenkammer 

Cornelia Metge, Vorsitzende des Ausschusses für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie der Ostdeutschen Psychotherapeutenkammer (OPK), stellte das Strategiepapier der OPK zur Bewältigung der psychischen Folgen der Pandemie für Kinder, Jugendliche und Familien vor. Ein von der OPK im Frühjahr 2021 einberufenes Expertengremium habe den umfassenden Anforderungskatalog erarbeitet. Das Papier bündelt zahlreiche Forderungen, darunter zeitlich befristete Ermächtigungen für die psychotherapeutische Behandlung von Kindern und Jugendlichen, die Förderung niedrigschwelliger Angebote und den Ausbau von sozialpsychiatrischen Diensten für Kinder und Jugendliche. Auch die Gruppenpsychotherapie sollte gestärkt werden. Cornelia Metge wies in diesem Zusammenhang auf die aktuellen Gruppenangebote für nicht psychisch kranke Kinder und Jugendliche der Kassenärztlichen Vereinigungen in Nordrhein-Westfalen hin. Es sei zu wünschen, dass solche Projekte über die Landesgrenzen hinaus Strahlkraft entwickeln.

Dr. Sabine Ahrens-Eipper aus dem Vorstand der OPK präsentierte eine Umfrage der Kammer unter rund 200 Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten aus dem Frühjahr 2021. Es habe sich bestätigt, dass die Nachfrage nach Psychotherapie in der Pandemie gestiegen sei, insbesondere unter den 14- bis 17-Jährigen. Als das Strategiepapier im Dezember 2021 veröffentlicht wurde, habe man viel positive Resonanz erfahren, und mittlerweile sei bereits einiges in Bewegung gekommen. Cornelia Beeking motivierte im Anschluss an den Vortrag der beiden Referentinnen, Konzepte wie das Strategiepapier der OPK auch in anderen Bundesländern weiterzudenken und Synergieeffekte zu nutzen.

Auswirkungen der Pandemie auf die Familien

Prof. Dr. Menno Baumann, Professor für Intensivpädagogik an der Fliedner Fachhochschule Düsseldorf, stellte den Einfluss der Pandemie auf die Familiendynamik dar. Grundsätzlich dürfe man Maßnahmen zum Schutz vor Infektionen und eine schädigende Wirkung auf die Psyche nicht gegenüberstellen, betonte er. Auch nicht ergriffene Maßnahmen hätten eine psychologische Wirkung. Er wies auch darauf hin, dass mögliche mit der Pandemie verbundene Probleme bei jungen Menschen früh bekannt gewesen seien. So hätten Jugendliche bereits in ersten Befragungen beklagt, dass ihre Bedürfnisse nicht gesehen würden. Ein großer Teil der jungen Menschen habe sich aber auch als äußerst resilient herausgestellt. Begriffe wie „Generation Corona“ würden ein unrealistisches und diffamierendes Bild erzeugen.

Die Beurteilung des bio-psycho-sozialen Einflusses der Pandemie auf junge Menschen und ihre Familien beschrieb Prof. Dr. Menno Baumann anhand der Darstellung eines vernetzten Modells als komplex und dynamisch. Psycho-soziale Risiken seien demnach unter anderem Vertrauensverlust, emotionale Verunsicherung und Verlust der Tagesstruktur. Zu den Ressourcen zähle beispielsweise eine neue Wertschätzung von Freundschaften und anderen Beziehungen. Alle in dem Modell der psycho-sozialen Dynamik der Pandemie wirksamen Faktoren würden über die Variablen „Verhalten der Eltern“, „psychisches Erleben“ und das „Risiko familiärer Gewalt“ vermittelt. Sobald einer dieser drei Aspekte problematisch sei, wirke sich das auf alles andere aus. Um dieses hochkomplexe Grundmodell habe sich die Pandemie schlichtweg „herumgelegt“. Bewältigungsstrategien, die Familien als hilfreich empfunden hätten, gelte es gezielt zu verbreiten und in Beratungsprozesse einzubauen, forderte der Experte. Darüber hinaus bräuchte es ausreichend pädagogische und psychosoziale Angebote, differenzierte Hilfen für Familien in Schwierigkeiten und ressourcenorientierte Angebote für Kinder.

Psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Coronazeiten

Prof. Dr. Silvia Schneider, Professorin für Klinische Kinder- und Jugendpsychologie an der Ruhr-Universität Bochum, stellte dar, dass die Analyse verschiedener Untersuchungen eine Verdopplung der Prävalenzen psychischer Störungen bei jungen Menschen aufzeigen würde. Besonders betroffen seien Kinder in prekären Lebensverhältnissen. Eindringlich mahnte sie an, der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Kinder seien in der Corona-Forschung und auch allgemein in der Forschung unterrepräsentiert. Das Kindes- und Jugendalter erweise sich jedoch als Hauptrisikophase für die Entstehung psychischer Störungen und frühe psychische Störungen könnten negative Entwicklungskaskaden in Gang setzen, die mit schweren und multimorbiden Verläufen im Erwachsenenalter enden. Um die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen zu steigern, seien aktive Bewältigungsstrategien und das Erleben von Selbstwirksamkeit elementar, erklärte Prof. Dr. Silvia Schneider. Grundsätzlich brauche es präventive Angebote, niederschwellige Hilfen und Frühwarnsysteme sowie altersangepasste Therapieangebote. Auch die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Akteurinnen und Akteure im Hilfesystem müsse verbessert werden. Viele junge Menschen würden sich sehr für psychische Gesundheit interessieren. Ein guter Weg, sie mit Informationen zu versorgen, seien Maßnahmen in Schulen. Die Profession sei gefordert, auf diese Forschungsergebnisse hinzuweisen und sie in die Politik zu tragen.

Auswirkungen von COVID 19 auf die psychotherapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen

Prof. Dr. Julian Schmitz, Professor für Klinische Kinder- und Jugendpsychologie an der Universität Leipzig, schilderte Auswirkungen der COVID 19-Pandemie auf die psychotherapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen. Grundsätzlich bestünden zwei zentrale Probleme: ein großes Versorgungsproblem, das sich mit der Pandemie nochmals verstärkt habe, und das Problem fehlender Daten und damit verbundener Schwierigkeiten, die Interessen der Berufsgruppe durchzusetzen. Die Auswertung verschiedener Quellen ergebe, dass Kinder und Jugendliche aktuell deutlich stärker psychisch belastet seien als vor der Pandemie. Neue Sorgen angesichts Herausforderungen wie Inflation, Klimakrise und dem Krieg in der Ukraine kämen hinzu. Wie sich dies auf die Situation in der Versorgung auswirke, ließe sich allerdings nicht leicht beantworten, hielt Prof. Dr. Julian Schmitz fest. So hätten sich die Wartezeiten von Kindern und Jugendlichen auf einen Therapieplatz zwar deutlich verlängert. Doch die vorliegenden bundesweiten Daten ließen wenig Rückschlüsse auf die Lage in einzelnen Regionen zu. Auch Abrechnungsdaten oder die Menge an Psychotherapieanträgen seien als Gradmesser letztlich nicht hilfreich, da sich ein erhöhter Bedarf in einem bereits ausgelasteten System nicht abbilde. Um das Versorgungsgeschehen valide beurteilen und darstellen zu können, bräuchte es zusätzliche epidemiologische Daten sowie Informationen von Behandelnden und Behandelten. Diese Daten müssten kontinuierlich, längsschnittlich und mit großer räumlicher Auflösung erhoben werden. Sich damit zu befassen, bezeichnete er als wichtige berufspolitische Aufgabe.

Konsensuspapier der DGKJ-Konvent-Gesellschaften

Dr. Anne Schlegtendal von der Klinik für Kinder und Jugendmedizin der Ruhr Universität Bochum skizzierte das Konsensuspapier „Einheitliche Basisversorgung von Kindern und Jugendlichen mit Long-COVID“, das von Vertreterinnen und Vertretern aus 19 Fachgesellschaften des Konvents der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e. V. und kooperierenden Fachgesellschaften erstellt wurde. Es fasse das breite Spektrum an Symptomen im Zusammenhang mit der Erkrankung, darunter  Stimmungsschwankungen, Angst und allgemeine Erschöpfung, zusammen. Aus den Hinweisen zur Basisdiagnostik und zur Behandlung von Post- oder Long- COVID bei Kindern und Jugendlichen werde festgehalten, dass zusätzlich zur somatischen Abklärung von Symptomen eine psychosomatische und/oder psychologische Diagnostik erforderlich sein könne. Je nach Schwere der psychischen Belastung würde eine begleitende psychotherapeutische Betreuung für Betroffene und ihre Familien für sinnvoll erachtet, hielt die Kinder- und Jugendmedizinerin fest.

Deutlicher Handlungsbedarf

In einer Plenumsdiskussion unter Beteiligung der Referentinnen und Referenten wurden Aspekte der Vorträge aufgegriffen und weitere Themen angesprochen. Bekräftigt wurde unter anderem die Forderung, Gesundheits- und Helfersystem besser zu verknüpfen. Wichtig sei, die Perspektive von Betroffenen einzubeziehen, insbesondere auch von Menschen in prekären Lebensverhältnissen. Eine bessere Datenlage sei notwendig, um fundiert für eine angemessene Versorgungsplanung argumentieren zu können. Hervorgehoben wurde, die Möglichkeiten von neuropsychologischer und systemischer Psychotherapie für Kinder und Jugendliche zu fördern. 
Cornelia Beeking fasste zusammen, dass der Fachtag wertvolle Informationen vermittelt und umfassenden Handlungsbedarf aufgezeigt habe. Oliver Staniszewski hob hervor, dass die Position der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten in der Versorgung weiterhin gestärkt werden müsse. Vor diesem Hintergrund sei sehr begrüßenswert, dass die Psychotherapeutenkammer NRW ein Thema der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie aufgegriffen habe. Cornelia Beeking hielt abschließend fest, dass sie viele Arbeitsaufträge mitnehme. Der Kammervorstand werde die bestehenden Kontakte nutzen und sich weiter zur psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen engagieren.

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