„Psychotherapie und Gesellschaft“ – der 19. Jahreskongress Wissenschaft Praxis im Rückblick

Am 21. und 22. Oktober 2023 fand der Jahreskongress Wissenschaft Praxis als gemeinsame Veranstaltung von Hochschulverbund Psychotherapie NRW und Psychotherapeutenkammer Nordrhein-Westfalen nach drei Online-Umsetzungen wieder in Präsenz in Bochum statt. Im 19. Kongressjahr standen bei der Eröffnung in zwei Referaten und einer Podiumsdiskussion Aspekte zum Schwerpunktthema „Psychotherapie und Gesellschaft“ im Fokus. Der Experte für einen dritten geplanten Vortrag musste seine Teilnahme aus persönlichen Gründen kurzfristig absagen. Sören Friedrich, wissenschaftlicher Leiter des Kongresses, wies einführend auf Organisatorisches hin, PD Dr. André Wannemüller, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Forschungs- und Behandlungszentrums (FBZ) für psychische Gesundheit der Ruhr-Universität Bochum, moderierte die Eröffnungsveranstaltung. Im Anschluss an den Vormittag bot der renommierte Kongress rund 70 Workshops zu Aspekten der psychotherapeutischen Arbeit mit Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen. Dabei wurden auch viele neue Themen aufgegriffen. Mehr als 260 Interessierte hatten sich zu der Fachveranstaltung angemeldet.

Psychotherapeutisches Wissen gesamtgesellschaftlich nutzen

Gerd Höhner, Präsident der Psychotherapeutenkammer Nordrhein-Westfalen, ging in seiner Ansprache zur Begrüßung der Teilnehmenden darauf ein, dass in Zeiten aktueller, nachwirkender und sich zuspitzender Krisen eine erhebliche Nachfrage nach psychotherapeutischen Hilfen verzeichnet werde. Insbesondere die Fallzahlen bei Kindern und Jugendlichen seien enorm gestiegen. Gesamtgesellschaftlich erlebe man derzeit vielfach Unsicherheit, Sorge, Unzufriedenheit und Irrationalität. Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten seien gefordert, sich damit zu befassen. Aus den Therapien sei bekannt, wie die Auseinandersetzung mit einer nicht einfachen Wirklichkeit gelingen könne. Dieses Wissen ließe sich gesamtgesellschaftlich nutzen, betonte Gerd Höhner. Die Überwindung der kritischen Situation sei möglich, verlange jedoch Ausdauer und Solidarität. Die Profession sehe sich in der Pflicht, darauf immer wieder hinzuweisen.

In der Versorgungslandschaft sei der Berufsstand heute anerkannte „Nummer Eins“ für die Behandlung von psychischen Störungen, so der Kammerpräsident weiter. Zusätzlich zu der Verantwortung für die Qualitätssicherung und die Weiterentwicklung der psychotherapeutischen Versorgung nehme die Profession die Aufgabe an, auf einen höheren gesellschaftlichen Stellenwert von und bessere Bedingungen für psychische Gesundheit hinzuwirken. Psychische Gesundheit sei wesentlich von den Lebensumständen abhängig. Diese gelte es gemeinsam zu gestalten.

„Urban mental health“: Förderung der psychischen Gesundheit jenseits der Mittelschicht

Prof. Dr. Silvia Schneider koordiniert das an der Ruhr-Universität Bochum angesiedelte Netzwerk, das einer der Standorte des Deutschen Zentrums für Psychische Gesundheit (DZPG) ist, und ist Direktorin des Forschungs- und Behandlungszentrums (FBZ) für psychische Gesundheit der Hochschule. In ihrem Vortrag hielt sie fest, dass es ein bedeutender Schritt für die Psychologie und die Psychotherapie sei, dass die Politik mit dem Aufbau des DZPG psychische Erkrankungen als Volkskrankheit und damit den großen Handlungsbedarf anerkenne. Wichtig sei dabei, gesellschaftliche Kontextfaktoren wie zum Beispiel den sozioökonomischen Status stärker in den Blick zu nehmen und damit sozusagen „aus der Box herauszutreten“, erklärte Prof. Dr. Silvia Schneider. Kindheit und Jugend seien Schrittmacher für psychische Erkrankungen, auch Zusammenhänge zwischen psychischer Gesundheit und Arbeitswelt hätten gesamtgesellschaftliche Relevanz, beschrieb sie beispielhaft. In der klinischen Forschung würden die Lebenswelten jedoch zu wenig berücksichtigt. Man verfüge zwar über gute, evidenzbasierte Interventionen, aber viele kämen bei den Menschen gar nicht an. Über Implementierungsforschung gelte es, die Barrieren ausfindig zu machen. Ein wichtiges Ziel sei zudem die Translation: Forschung müsse in die Praxis kommen und Erkenntnisse aus der Praxis müssten in die Forschung zurückfließen. Hierbei sei auch die Zusammenarbeit mit der Kammer wertvoll.

Mit dem Projekt „Urban Mental Health“ stellte Frau Prof. Schneider ein durch das DZPG ermöglichtes Forschungsvorhaben der Ruhr-Universität vor. Umgesetzt werde es im Stadtteil Bochum-Wattenscheid, da dort viele Kinder und Jugendliche in prekären Verhältnissen leben würden. Mithilfe primärpräventiver Maßnahmen wolle man ihre psychische Gesundheit nachhaltig verbessern – insbesondere über Interventionen in den Lebenswelten, fachliche Unterstützung und Vernetzung der Fachkräfte vor Ort sowie einfachere Zugänge zu Hilfsangeboten. Das Projekt werde wissenschaftlich evaluiert und sei zunächst auf zwei Jahre angelegt.

Psychotherapie und Klimakrise – Wo sind die Schnittstellen, was gibt es zu tun?

Lea Dohm, Psychologische Psychotherapeutin und Mit-Initiatorin der Psychologists for Future, führte aus, dass die Mehrheit der Bevölkerung den menschengemachten Klimawandel mittlerweile als problematisch ansehe. Das Ausmaß und die Folgen würden jedoch oft verkannt. Ausführlich erläuterte sie dabei wirksame psychologische Abwehrmechanismen, Denkverzerrungen und Verzögerungsdiskurse. Es brauche allerdings ein angemessenes Problembewusstsein in der Gesellschaft als Motor, der Menschen ins Handeln bringen könne, betonte die Referentin. Entsprechend wichtig sei es, dass sich Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten im öffentlichen Diskurs zu Wort melden. Sie könnten unter anderem in den Bereichen Kommunikation und Motivation oder bei der Gestaltung von Gruppenprozessen wertvolle Kompetenzen einbringen. Dies würde für konstruktive Debatten zu Klimathemen gebraucht.

In der Muster-Berufsordnung für den Berufsstand sei bereits verankert, dass er sich „an der Erhaltung und Weiterentwicklung der soziokulturellen Lebensgrundlagen im Hinblick auf ihre Bedeutung für die psychische Gesundheit der Menschen“ beteilige, verdeutlichte die Referentin. Auch in diesem Sinne habe die Profession die Aufgabe, zu klimapsychologischen Themen im politischen Kontext Einschätzungen und Forderungen zu formulieren, Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben und sich beratend in den zahlreichen Bereichen einzubringen, in denen sozialökologische Transformation benötigt werde. Darüber hinaus gelte es, die Rolle von Klimathemen im Behandlungszimmer und ihre psychotherapeutischen Implikationen zu reflektieren. Fortbildung hierzu und der Austausch in Supervisionsgruppen oder Qualitätszirkeln seien unverzichtbar. Schließlich müsse sich die Profession angesichts wachsender psychischer Belastungen durch den Klimawandel verstärkt um Prävention kümmern, sagte Lea Dohm. Die Klimakrise mit ihren facettenreichen Folgen sei auch eine Krise der psychischen Gesundheit.

Reger Austausch in der Podiumsdiskussion

In der anschließenden Podiumsdiskussion nutzten viele Teilnehmende die Gelegenheit für Kommentare und Fragen an die Referentinnen. Zur Sprache kam unter anderem die Definition von Kontextfaktoren für die Gestaltung präventiver Maßnahmen zur psychischen Gesundheit und inwiefern Klimathemen in der Psychotherapie vorkommen und verhandelt werden könnten. Festgehalten wurde, dass viele Fragen hierzu nicht leicht zu beantworten seien. Umso wichtiger sei es, sich weiterhin intensiv mit diesen Themen auseinanderzusetzen.

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