Rückblick auf den 17. Jahreskongress Psychotherapie Wissenschaft-Praxis 2021

„Psychotherapie im 21. Jahrhundert“ lautete das Schwerpunktthema des etablierten Jahreskongresses Psychotherapie Wissenschaft Praxis am 9. und 10. Oktober 2021. Angesichts der in der Corona-Pandemie notwendigen Schutzmaßnahmen fand die gemeinsame Veranstaltung von Hochschulverbund Psychotherapie NRW und Psychotherapeutenkammer NRW in ihrem 17. Jahr erneut online statt. Der Eröffnungsvormittag bot drei Impulsvorträge rund um das Schwerpunktthema; anschließend standen an den zwei Veranstaltungstagen 62 Online-Workshops zu Aspekten aus dem breiten Spektrum der psychotherapeutischen Arbeit bei Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen auf dem Programm. Über 300 Kongressbesucherinnen und -besucher nahmen an den von ihnen gebuchten Seminaren teil.

Spürbarer Umbruch

Prof. Dr. Silvia Schneider von der Fakultät für Psychologie, Lehrstuhl Klinische Kinder- und Jugendpsychologie an der Ruhr-Universität-Bochum, begrüßte sie im Namen des Hochschulverbundes Psychotherapie Nordrhein-Westfalen. Das diesjährige Schwerpunktthema „rieche nach Umbruch“ – und der sei hierzulande auch spürbar: Mit der Einführung des Direktstudiums „Psychotherapie“ würde sich an den Hochschulen und Universitäten, die den Approbationsstudiengang anbieten werden, vieles neu entwickeln und neu strukturieren. Auch dadurch mit bedingt erlebe man Veränderungen und neue Modelle, die die psychotherapeutische Versorgung von Menschen mit psychischen Störungen über alle Altersgruppen hinweg verbessern sollen. Bei der Zusammenstellung des diesjährigen Kongressprogramms sei ein zentraler Ansatz gewesen, Aspekte der Psychotherapie im 21. Jahrhundert für Kinder, Jugendliche und Erwachsene möglichst weitsichtig in Verbindung von Forschung und Praxis aufzugreifen.

„Wir brauchen langfristige Konzepte“

Gerd Höhner, Präsident der Psychotherapeutenkammer NRW, hob in seinem Grußwort hervor, dass nach zahlreichen, auch bei der Kammer eingegangenen Nachfragen, wie sich die mit der Pandemie verbundenen psychosozialen Belastungen gewissermaßen „per Rezept“ aus der Welt schaffen ließen, hierzu in der Öffentlichkeit mittlerweile etwas angemessener diskutiert werde. Trotz vieler guter Ratschläge werde jedoch selten auf die besondere Situation junger Menschen eingegangen. Die Psychotherapeutenkammer NRW habe wiederholt auf die psychosoziale Verarmung von Kindern und Jugendlichen und die damit einhergehenden kurz- und langfristigen psychischen Belastungen bis hin zu ernsthaften psychischen Erkrankungen hingewiesen. Von den niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen sei zu hören, dass die Nachfrage nach psychotherapeutischen Unterstützungsleistungen und Psychotherapien enorm angestiegen sei. Damit befinde man sich über die aktuellen Probleme in der ambulanten Versorgung hinausgehend in einer besonders zugespitzten Situation. Die Kammer habe frühzeitig deutlich gemacht, dass den daraus resultierenden Herausforderungen nicht allein mit kurzfristigen Strategien begegnet werden könne. Es sei notwendig, sich mit diesem Thema fachlich, ausführlich und langfristig zu befassen.

PD Dr. Tobias Teismann  begrüßte die Kongressteilnehmenden als Vertreter der Planungsgruppe vom Hochschulverbund Psychotherapie NRW und bedankte sich bei allen Mitwirkenden. Das Schwerpunkthema „Psychotherapie im 21. Jahrhundert“ verdeutliche, dass es darum gehe, sich sowohl praktisch-therapeutisch als auch strukturell damit zu befassen, wo man derzeit stehe und wo es perspektivisch hingehen könnte und sollte. Als Neuerungen im Zuge der wiederholten Online-Umsetzung des Fachkongresses stellte er die Live-Chat-Räume für den Austausch in den Pausen und die Online-Diskussion in Anschluss an die Hauptvorträge vor.

Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen im 21. Jahrhundert

Prof. Dr. Silvia Schneider verdeutlichte in ihrem Vortrag „Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen im 21. Jahrhundert“, dass psychische Störungen typischerweise im Kindes- und Jugendalter beginnen würden und ein Schrittmacher für weitere psychische Störungen seien. Daten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zum weltweiten „Burden of Disease“ würden aufzeigen, dass Kinder- und Jugendliche „Spitzenreiter“ seien, mit einer hohen Anzahl an verlorenen Lebensjahren aufgrund psychischer Erkrankungen. Alarmierend sei zudem, dass in Deutschland immer weniger Kinder und Jugendliche leben würden, gleichzeitig jedoch vermehrt Hilfen zur Erziehung und Eingliederungshilfe im Kinder- und Jugendbereich in Anspruch genommen würden. Der damit wachsende Druck auf die Gesellschaft beinhalte eine klare Handlungsaufforderung. Kinder und Jugendliche sollten für eine effektive Prävention und Frühintervention in den Fokus gestellt werden.

Anhand internationaler und eigener Studien blickte Prof. Dr. Silvia Schneider auf die aktuelle Psychotherapieforschung. Insbesondere ging sie auf die Verhaltenstherapie bei wichtigen Störungsbildern wie Angststörungen, Depression und Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Kindes- und Jugendalter ein. Sie beleuchtete hierzu kritisch die Forschungslage bezüglich der Effektivität verschiedener psychotherapeutischer Behandlungen in dieser Altersgruppe. Hier bestünde noch „viel Luft nach oben“. Doch für die meisten psychischen Störungen würden auch effektive verhaltenstherapeutische Interventionen bereitstehen. In Deutschland würde in diesem Bereich zudem vermehrt geforscht. Ebenso sei das Thema psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen in der Politik angekommen und habe zu einer stärkeren strukturellen Verankerung des Fachs Klinische Kinder- und Jugendpsychologie in den Lehrstühlen geführt. Doch es sei weiterhin mehr Forschung nötig, ebenso eine bessere Zusammenarbeit von Forschung, Lehre und Praxis. Auch brauche es mehr unterschiedliche Settings und Beweglichkeit in der Psychotherapie. Beispielsweise gälte es, transgenerationale Effekte von Psychotherapie zu berücksichtigen. Dringender Nachholbedarf bestünde in der Entwicklung von störungsspezifischen und altersangepassten Störungstheorien. Weitere wichtige Ziele seien die Akkumulation singulärer Ansätze und pragmatische interdisziplinäre Therapieinterventionen. Abschließend betonte die Psychologin, dass Prävention und Frühinterventionen außerordentlich lohnenswert seien. Eigene zukünftige Forschungsvorhaben hätten daher die Lebensspanne vom Babyalter bis ins hohe Erwachsenenalter im Blick.

Grundlagen der Prozessbasierten Therapie

Prof. Dr. Stefan G. Hofmann  vom Departement of Psychological and Brain Sciences an der Boston University, USA, widmete sich der Prozessbasierten Therapie (PBT). Der Psychologe und Neurowissenschaftler erläuterte sie als ein Verfahren, das sich vom latenten Krankheitsmodell der kriterienorientierten Klassifikationssysteme psychischer Störungen abwende. Vielmehr beziehe sich die Prozessbasierte Therapie ideographisch auf die Komplexität, die Wechselbeziehung und die mehrdimensionale Ebene der Probleme in einem Individuum. Im Fokus stünde dabei, wie die wichtigsten biopsychosozialen Prozesse in einer bestimmten Situation für bestimmte Ziele mit einem bestimmten Menschen am besten angestrebt und geändert werden könnten. Um diese Zusammenhänge zu verstehen, sei die Funktionsanalyse als Basis der Verhaltenstherapie wichtig. Die Prozessbasierte Therapie kombiniere Funktionsanalysen mit einem dynamischen und personenbezogenen Netzwerkansatz und ziele darauf ab, empirisch fundierte Verfahren in optimaler Weise auf die Patientin oder den Patienten anzupassen.

Anschaulich skizzierte der Referent, dass in der Prozessbasierten Therapie in der Praxis nicht linear vorgegangen werde, sondern mithilfe evidenzbasierter Methoden dynamische Prozesse gestaltet würden, um den Zustand der Patientin bzw. des Patienten von „nicht anpassungsfähig“ in „anpassungsfähig“ zu überführen. Dafür müsse zunächst der Zusammenhang von Problemen sowie ihre Funktion ergründet werden. Wer beispielsweise schlecht schlafe und Gedächtnisprobleme habe, würde zunächst hinsichtlich der Schlafprobleme therapiert, um anschließend gegebenenfalls die Gedächtnisprobleme beheben zu können. Des Weiteren skizzierte Prof. Dr. Stefan G. Hofmann für die Prozessbasierte Therapie wichtige Variablen. Insbesondere Selbstwirksamkeit und Akzeptanz würden sich als bedeutsam erweisen. Zusammenfassend hielt er fest, dass für diese Behandlungsform auf Basis der zentralen Wirkfaktoren bereits ein breites theorieübergreifendes Modell geboten werde. Als Perspektive stellte er in Aussicht, mittels der Prozessbasierten Therapie die Mauern zwischen Traditionen, Schulen und Trends einreißen und die Individualisierung stärken zu können.

Komplexbehandlung – eine Chance für schwer psychisch kranke Menschen?

Der dritte Vortrag von Barbara Lubisch , niedergelassene Psychotherapeutin in Aachen, verfolgte die Fragestellung „Komplexbehandlung – eine Chance zur besseren Versorgung schwer psychisch kranker Menschen?“ Mit Blick in die Geschichte hielt sie fest, dass erst 2014 in einer Vertragswerkstatt der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) Ansätze für strukturierte Kooperationen von Psychiaterinnen bzw. Psychiatern und Psychotherapeutinnen bzw. Psychotherapeuten entstanden seien. Das entwickelte Konzeptpapier habe als Grundlage für das Projekt zur Neurologisch-Psychiatrisch-Psychologischen Versorgung (NPPV-Projekt) gedient, das der Innovationsfond 2017 startete, und das nach vier Jahren mit positiver Bilanz auslief.

2019 hatte der Gesetzgeber in das Gesetz zur Reform der Psychotherapieausbildung den Auftrag an den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) eingebracht, eine neue Richtlinie zur ambulanten Versorgung von schwer psychisch kranken Menschen mit komplexem Behandlungsbedarf zu entwickeln, so Barbara Lubisch weiter. „Komplexbehandlung“ werde hierbei als eine berufsgruppenübergreifende, koordinierte und strukturierte Versorgung verstanden. Bei der Ausgestaltung der neuen Richtlinie habe man versucht, die positiven, alltagserprobten Erfahrungen aus dem NPPV-Projekt einzubringen. Als sehr hilfreich hätten die Niedergelassenen im NPPV-Projekt beispielsweise die Unterstützung durch regionale Netzwerkmanager erlebt.

Nach intensiver Arbeit sei im September 2021 eine „Erstfassung“ der neuen Richtlinie zur Komplexbehandlung beschlossen worden. In diesem Konzept sei beispielsweise vorgesehen, dass sich Netzverbünde bilden, in denen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sowie Ärztinnen und Ärzte als Bezugspersonen die Behandlung in Zusammenarbeit mit weiteren Leistungserbringenden koordinieren. Die aktuelle Fassung der Richtlinie sei ein bedeutender Schritt in die richtige Richtung, urteilte Barbara Lubisch. Allerdings seien weitere, anstrengende Verhandlungen mit den Beteiligten in den jeweiligen Gremien zu erwarten. Es sei mit der Richtlinie zwar gelungen, die Profession konzeptionell in der Komplexversorgung zu verankern. Neben weiteren Hürden müsse aber unter anderem überwunden werden, dass sich nicht nur psychotherapeutische Praxen mit einem ganzen Versorgungsauftrag an einem regionalen Netzverbund beteiligen können.

Vertiefende Live-Diskussion zu den Vorträgen

Insgesamt 159 Teilnehmende sorgten in der sich den Vorträgen anschließenden Live-Diskussion für einen regen Austausch. Auch Prof. Dr. Silvia Schneider und Prof. Dr. Stefan G. Hofmann wählten sich in die Runde ein, die von PD Dr. Tobias Teismann moderiert wurde. Im Austausch mit dem Experten wurde anhand der in den Chat eingestellten Fragen von Teilnehmenden die Grundidee der Prozessbasierten Therapie und ihre Umsetzung in der Praxis vertieft. Prof. Dr. Stefan G. Hofmann wies dabei unter anderem darauf hin, dass viel Flexibilität gefordert sei und man sich davon lösen müsse, Störungsbilder in Kategorien zu denken. Des Weiteren wurden Fragen zur Therapieplanung, zur Qualitätssicherung und den notwendigen Kompetenzen der Behandelnden erörtert. Im zweiten Teil standen Anmerkungen und Fragen zu dem Vortrag von Prof. Dr. Silvia Schneider im Mittelpunkt. Angesprochen wurden unter anderem die Bedeutung und der Einfluss der Bezugspersonen bei verhaltenspsychotherapeutischen Interventionen mit Kindern und Jugendlichen, Herausforderungen und Zukunftsaufgaben im Zusammenhang mit der Behandlung des Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms (ADHS) sowie Möglichkeiten, die Prozessbezogene Therapie auch in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie zu nutzen.

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