Kooperation als berufspolitische Zukunft

Fortbildung der PTK NRW zu neuen Versorgungsformen

Unter dem Titel „Neue Versorgungsformen – Psychotherapeutische Kooperationsmöglichkeiten“ trafen sich rund 40 Mitglieder der Psychotherapeutenkammer NRW und Rheinland Pfalz am 25. April 2009 zu einer Fortbildungsveranstaltung in Düsseldorf.

Kern der Veranstaltung war der Bochumer Vertrag zur integrierten Versorgung von schwer psychisch Kranken. Der Vertrag richtet sich an Versicherte der Techniker Krankenkasse (TK), die an Angst- oder Zwangsstörungen, affektiven Störungen oder Anpassungs- bzw. Belastungsstörungen leiden und aufgrund dieser Erkrankung aktuell arbeitsunfähig oder massiv beeinträchtigt sind. Neben der stationären Standardversorgung bietet er den Patienten die Möglichkeit, sich auch intensiv ambulant psychotherapeutisch behandeln zu lassen (60 Stunden über maximal sechs Monate, ohne Genehmigungsantrag, keine Begrenzung der Behandlungsstunden pro Tag oder Woche). Nach der ambulanten oder stationären Intensivtherapie folgt eine ambulante psychotherapeutische Weiterbehandlung. Der Patient erhält mindestens sieben Termine in den folgenden 13 Wochen. Insgesamt sind 25 Sitzungen wiederum ohne Gutachterverfahren möglich, bei Bedarf auch mehr im Rahmen des regulären Verfahrens. Der Vertrag wurde von der Techniker Krankenkasse NRW, den Katholischen Kliniken Ruhrhalbinsel in Hattingen und dem Zentrum für Psychotherapie der Ruhr-Universität Bochum geschlossen.

Hintergrund des Bochumer Vertrages sind insbesondere gravierende Schwächen in der Versorgung schwer psychisch Kranker, die sich beispielsweise im Dortmunder Psychiatriebericht der Jahre 1998 bis 2008 zeigen: Danach nahmen die stationären Aufnahmen um 16 Prozent zu. Nur 38 Prozent aller Aufnahmen sind Erstaufnahmen. 62 Prozent der Patienten wurden schon vorher einmal stationär behandelt. Die Wiederaufnahmerate innerhalb eines Jahres nach der Entlassung lag zwischen 68 und 73 Prozent. 60 Prozent der Wiederaufnahmen in eine Tagesklinik erfolgten innerhalb von vier Wochen nach einer Entlassung aus stationärer oder teilstationärer Behandlung. Die Wartezeit auf ein ambulantes Erstgespräch betrug acht bis zwölf Wochen, die Wartezeit auf den Therapiebeginn nach einer Indikation für eine ambulante Psychotherapie vier bis sechs Monate.

Für schwer psychisch Kranke besteht eine massive Unterversorgung. Dr. Christina Tophoven, Geschäftsführerin der Bundespsychotherapeutenkammer, präsentierte die Versorgungsdaten: Danach erkranken jährlich rund fünf Millionen Menschen so schwer an einer psychischen Störung, dass sie arbeitsunfähig oder schwer beeinträchtigt sind. Diesem Bedarf stehen jedoch nur circa 1,5 Millionen ambulante oder stationäre Behandlungsplätze gegenüber. Aus der Unterversorgung resultieren aber nicht nur unakzeptable lange Wartezeiten für die Patienten, sondern auch eine einseitige Pharmakotherapie in der Behandlung. Dabei ist Psychotherapie nach evidenzbasierten Leitlinien die erste Wahl oder gleichrangig zu anderen Behandlungsmöglichkeiten.

Eine schnellere Versorgung schwer psychisch Kranker ist allerdings für niedergelassene Einzelpraxen angesichts langer Wartelisten unrealistisch. Kooperation und bessere Vernetzung könnten hier mögliche Lösungen sein. Der Bochumer IV-Vertrag ist eins der ersten Versorgungsmodelle, in denen eine ambulante psychotherapeutische Intensivtherapie für schwer psychisch Kranke realisiert werden kann. Auf der Düsseldorfer Fortbildungsveranstaltung wurden an seinem Beispiel intensiv die Vor- und Nachteile neuer psychotherapeutischer Versorgungsformen diskutiert.

Das Konzept sieht drei Behandlungsmodule vor:

Modul IÜberprüfung der Indikation für dieses Behandlungskonzept (SKID, psychiatrische Untersuchung u.a.)
Modul IIaStationäres Treatment as usual
Modul IIb60 Stunden Einzelpsychotherapie verteilt auf maximal 6 Monate (intensive psychotherapeutische Behandlung), kein Antrag und keine Begrenzung der Behandlung pro Tag/Woche abrechenbarer Leistungen.
Modul IIIFortsetzung der Behandlung im Umfang von weiteren 25 Sitzungen ohne Gutachterverfahren (mindestens 7 Termine in den folgenden 13 Wochen).Bei Verlängerungsbedarf ist anschließend ein Umwandlungsantrag möglich.

Die Module IIa und IIb können zeitlich parallel, überlappend oder nacheinander durchgeführt werden.

Der IV-Vertrag ist offen für die Beteiligung weiterer Kliniken und Vertragsbehandler, auch für andere Richtlinienverfahren. Für den letzteren Fall wäre allerdings erst einmal Konzeptarbeit erforderlich, um die bisherigen Behandlungskonzepte um intensive psychodynamische Vorgehensweisen zu ergänzen.

Aus Sicht der Krankenkassen hatte das Bochumer Versorgungskonzept für schwer psychisch Kranke sowohl Effizienz- wie Kostenvorteile. Jürgen Medenbach von der Techniker Krankenkasse Düsseldorf führte aus, dass aus Sicht der Kostenträger das Bochumer Konzept psychotherapeutischer Intensivversorgung deshalb interessant war, weil es weniger stationäre Aufnahmen, kürzere Verweildauern ohne „Drehtüreffekt“, weniger Arbeitsunfähigkeitstage und eine effektivere Behandlung verspricht. Dafür sei die TK auch bereit, neue Wege auszuprobieren.

Geringe Wartezeiten und intensive Psychotherapie sind von einer Universitätsambulanz leichter zu realisieren als von niedergelassenen Psychotherapeuten in einer Einzelpraxis. Die Teilnehmer der Fortbildungsveranstaltung diskutierten deshalb intensiv, welche berufspolitische Zukunft Kooperationen und stärkere Vernetzung von Einzelpraxen haben. Birgit Heinrich, Geschäftsführerin der Psychotherapeutenkammer Rheinland-Pfalz, gab einen Überblick über die rechtlichen Rahmenbedingungen der neuen Versorgungsformen:

  • Hausarztzentrierte Versorgung nach § 73b Sozialgesetzbuch (SGB) V
  • Besondere ambulante ärztliche Versorgung nach § 73c SGB V
  • Integrierte Versorgung nach §§ 140 a-d SGB V
  • Medizinische Versorgungszentren (MVZ) nach § 95 Abs. 1 SGB V
  • (Teil-) Berufsausübungsgemeinschaft nach § 95 Abs. 1 SGB V i. V. m. § 33 Abs. 2 ZV-Ä

Birgit Heinrich betonte, dass diese neuen Versorgungsformen keine Zukunftsmusik mehr seien, sondern bereits häufig genutzt würden. Sie berichtete vom „Netz für seelische Gesundheit“ in Mainz, das insbesondere durch das Engagement der psychodynamisch arbeitenden Kolleginnen und Kollegen realisiert werden konnte. (Das Netz für seelische Gesundheit wird auf der zweiten gemeinsamen Fortbildung zu neuen Versorgungsformen der nordrhein-westfälischen und rheinland-pfälzischen Psychotherapeutenkammern am 19. September in Koblenz ausführlich vorgestellt.)

In der ganzen Bundesrepublik erleben zurzeit insbesondere Medizinische Versorgungszentren einen erstaunlichen Boom, weil größere Kapitalgesellschaften darin lukrative Anlagemöglichkeiten sehen und weil Krankenkassen sie für besondere Serviceangebote an ihre Mitglieder nutzen. Als ökonomische Rahmenbedingung kommt hinzu, dass psychiatrische und psychosomatische Krankenhäuser ihr ambulantes und teilstationäres Behandlungsangebot ausweiten und als Wettbewerber zu Einzelpraxen am Markt auftreten. Verständlich, dass sich einige Teilnehmer der Fortbildungsveranstaltung angesichts dieser Veränderungen überfordert und in ihrer Existenz bedroht fühlten. Die entscheidende Frage für viele Teilnehmer war, wie sich niedergelassene Psychotherapeuten kooperieren, vernetzen, besser gegenseitig unterstützen und stärken können. In der Praxis sind dafür unzählige Einzelfragen zu lösen. Wenig Sinn mache es, sich als Einzelner bei einer Krankenkasse zu melden.

Monika Konitzer, Präsidentin der Psychotherapeutenkammer NRW, betonte, wie wichtig ihr auch in Zukunft eine psychotherapeutische Versorgung durch Einzelpraxen ist. Sie machte deutlich, dass sie sich auch zukünftig eine bedarfsgerechte und wohnortnahe Versorgung psychisch kranker Menschen nicht ohne die Einzelpraxis vorstellen könne. Sie versprach, in Sachen Kooperation und Vernetzung weitere Hilfen und Informationen. Sie erklärte allerdings, dass die Kammer aufgrund ihrer gesetzlichen Grundlagen weder Netze organisieren noch Verträge schließen könne. Dafür seien die Berufsverbände der richtige Ansprechpartner.

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