„Psychotherapie bei problematischem Alkoholkonsum ist wirksam und hilfreich“

Barbara Schickentanz, Sprecherin der gemeinsamen Fachkommission Sucht der Psychotherapeutenkammern NRW und RLP, über psychotherapeutische Hilfen bei Alkoholmissbrauch.

Vom 13. bis 21. Juni 2015 findet zum fünften Mal die „Aktionswoche Alkohol“ der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen statt. Neun Tage lang engagieren sich bundesweit Selbsthilfegruppen, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Ehrenamtliche in zahlreichen Veranstaltungen und Aktionen. Ihr Ziel: Das diesjährige Motto „Alkohol? Weniger ist besser!“ in die Öffentlichkeit zu tragen und das Bewusstsein für einen reflektierten Umgang mit Alkohol zu fördern.

Nach Angaben der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen trinken gut 96 Prozent der Menschen zwischen 18 und 64 Jahren hierzulande Alkohol; der Pro-Kopf-Konsum lag im Jahr 2010 bei 135,4 Litern. Etwa 1,61 Millionen Männer und Frauen im Alter zwischen 18 und 64 Jahren trinken missbräuchlich Alkohol. Männer konsumieren durchschnittlich deutlich mehr als Frauen. Hinzu kommen an die 1,8 Millionen Alkoholabhängige. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 2012 ist die Krankheitsdiagnoseklasse „Psychische- und Verhaltensstörungen durch Alkohol“ bei Männern der häufigste Behandlungsanlass in Krankenhäusern.

In der Öffentlichkeit wird das Thema Alkohol allerdings weitgehend verharmlost. Bei vielen Anlässen gehört Alkohol ganz selbstverständlich dazu und wer nicht mittrinkt, ist schnell eine Spaßbremse. Sprüche wie „Ein Gläschen in Ehren“ oder „Zwischen Leber und Milz passt immer noch ein Pils“ kommen nicht von ungefähr. Dass jemand zu regelmäßig oder zu viel trinkt, fällt dabei oft gar nicht auf. Doch riskante Konsummuster können schleichend in die Abhängigkeit führen.

Frau Schickentanz, inwiefern können psychische Probleme den Alkoholkonsum fördern?

Alkohol hat ein breites Wirkungsprofil, er entspannt, wirkt schlafanstoßend, regt an, verstärkt bestehende Emotionen, setzt Hemmschwellen herab und er ist leicht erhältlich, man bekommt ihn fast überall und rund um die Uhr. Er wird häufig in Gesellschaft mit anderen getrunken, gehört zu unserem Alltag. Die angenehm entspannende oder aktivierende Wirkung führt daher dazu, dass Alkohol oft auch als Selbstmedikation bei affektiv aufgeladenen Krisen eingesetzt wird. Ratschläge wie „Jetzt trink erst mal einen, dann geht es dir schon wieder besser“ hat wohl jeder schon gehört.

Wie kann ein riskantes Konsummuster entstehen?

Alkohol löst keine Probleme, sondern führt bei verstärktem Konsum eher zu einer weiteren Verschlimmerung der Situation. Der Problemberg wird nicht kleiner, sondern größer. Negative physiologische und psychische Auswirkungen bedingen und verstärken sich gegenseitig. So führt verstärktes Trinken zwar zunächst subjektiv zu einer Erleichterung oder einer Auszeit. Alkoholkonsum fördert zum Beispiel ein verbessertes Einschlafen, bewirkt letztlich jedoch durch Verstärkung der Tiefschlafphasen und Verringerung des REM-Schlafes einen schlechteren Schlaf. Die folgende mangelnde Erholung kann depressive Symptome verstärken, Problemlösefähigkeiten weiter verschlechtern und so einen sich selbst verstärkenden Kreislauf in Gang setzen.

Inwiefern behindert die gesellschaftliche Akzeptanz von Alkohol eine frühe psychotherapeutische Intervention?

Unsere gesellschaftlichen Normen stehen im Wege. Das Trinken von Alkohol wird bei fast allen Gelegenheiten akzeptiert. Übrigens bei Männern immer noch mehr als bei Frauen, wenngleich Frauen, vor allem beruflich erfolgreiche Frauen, „aufholen“. Wir leben in einer leistungs- und erfolgsorientierten Welt. Wer nicht so viel verträgt wie andere oder Alkohol konsumiert, weil er etwas in seinem Leben nicht ohne zu trinken bewältigen kann, will genau das nicht zugeben. Das kann dazu führen, dass ein heimliches Trinken einsetzt, dass zum Beispiel zu Hause getrunken wird oder am Arbeitsplatz auf der Toilette, um in Gesellschaft dann so viel wie die anderen oder sogar gar nicht zu trinken. Andere suchen den engen Kontakt zu Mittrinkern oder Mittrinkerinnen, distanzieren sich von Menschen, die wenig oder gar nicht trinken. Ein möglicherweise riskanter Konsum fällt dann oft erst sehr spät oder gar nicht auf.

Laut der neuen S3-Leitlinie “Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen“ vom Februar 2015, ist die Kurzintervention bei Menschen mit riskantem Alkoholkonsum bedeutsam, um eine Abhängigkeit zu verhindern. Was gilt für frühe psychotherapeutische Hilfen?

Unter Kurzinterventionen werden in der Leitlinie Interventionen von 60 Minuten Dauer verstanden, mit einer Häufigkeit von bis zu fünf Sitzungen. Ziele dieser Interventionen sind die Reduktion des Alkoholkonsums und der damit verbundenen Probleme. Die Sitzungen sollen die individuelle Zielfindung unterstützen, ein fachliches Feedback sowie konkrete Ratschläge beinhalten.

Diese Inhalte entsprechen einem fachlich qualifizierten psychotherapeutischen Vorgehen nicht nur bei riskantem Suchtmittelkonsum, sondern bei allen psychischen Störungen. Menschen, die sich die Frage stellen, ob sie eine Behandlung benötigen oder ohne eine solche auskommen können, brauchen einen geschützten Raum, in dem sie diese Fragen klären können. Insofern bieten Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten diese fachlich versierte Unterstützung in vielerlei Hinsicht bereits seit langem.

Für Betroffene mit einem riskanten Alkoholkonsum gilt es, ihr Konsumverhalten zu reflektieren: Trinke ich zu viel, gibt es ein Problem? Sollte ich etwas verändern und wenn ja, wie kann ich das angehen? Alle psychotherapeutischen Interventionen, die diese Suchtbewegung des Betroffenen auslösen oder verstärken, sind hilfreich und wirksam. Zudem geht es um psychoedukative Gesprächselemente, um Informationen zum Erkrankungsgeschehen und Hilfsmöglichkeiten. Ebenso bedeutsam ist eine Ressourcenorientierung und damit verbunden die Entwicklung von Zuversicht und Optimismus. Veränderung ist möglich. Eben diese Information benötigen Alkohol konsumierende Menschen genauso wie andere psychisch oder psychosomatisch belastete Menschen in psychotherapeutischen Erstgesprächen und Kurzinterventionen.

Wie kommen Angebote und Patienten zusammen?

Bis eine alkoholbezogene Störung manifest besteht und eine suchtspezifische Behandlung in Anspruch genommen wird, vergehen oft viele Jahre. Neben personenbezogenen Hindernissen wie Schuld-, Scham- oder Versagenserleben auf Seiten der Betroffenen, stehen dem viele bürokratische Hindernisse entgegen. Prävention, Beratung, Behandlung und Rehabilitation werden in unserem Gesundheitssystem durch eine Vielzahl unterschiedlicher Kosten- und Leistungsträger finanziert. Regionale Unterschiede machen die Situation oft noch komplizierter. Reibungsverluste durch Schnittstellenprobleme oder lange Antragsverfahren sind da leider nicht selten. Hier besteht erheblicher Verbesserungsbedarf.

Eine positive Veränderung ergab sich 2011. Geänderte Psychotherapierichtlinien lassen seither zu, dass auch Menschen mit bestehendem Suchtmittelkonsum eine ambulante Psychotherapie beginnen können. Das ist eine gravierende Verbesserung, die es ermöglicht, im Verlauf der probatorischen Sitzungen zu klären, ob eine ambulante Psychotherapie sinnvoll und zielführend ist. Wir sehen derzeit ein sehr hohes Interesse der niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen an Fortbildungen zur Psychotherapie von Suchterkrankungen, so dass ein verbesserter Zugang zur ambulanten Psychotherapie für Betroffene auch im Alltag möglich ist. In Akutkliniken, in denen häufig Menschen mit alkoholassoziierten somatischen Störungen behandelt werden, fehlt die Möglichkeit zu psychotherapeutischen Interventionen meist, da dort kaum Psychologische Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten beschäftigt sind. Dabei wären hier solche Interventionen dringend angezeigt.

Liegt die Suchtproblematik direkt auf der Hand?

Aus vielen Kontakten mit Beratungseinrichtungen wissen wir, dass die Inanspruchnahme von Beratungsleistungen immer seltener wegen eines problematischen Suchtmittelkonsums erfolgt, sondern wegen verschiedener psychosomatischer Beschwerden wie depressiven Symptomen, Schlafstörungen, Ängsten oder Schmerzen. Die Zahl der Menschen mit einem riskanten Alkoholkonsumverhalten hat sich jedoch in den letzten Jahren nicht wesentlich verringert. Das bedeutet, dass sich vermutlich bei Klientinnen und Klienten in der ambulanten Psychotherapie in einer Vielzahl der Fälle hinter den geschilderten Beschwerden (auch) ein riskanter Suchtmittelkonsum verbirgt.

Welchen Stellenwert haben psychotherapeutische Angebote im Rahmen einer Nachsorge?

Eine Suchterkrankung ist eine chronische Erkrankung. Die Aufrechterhaltung von Abstinenz bedarf der anhaltenden Lebensstiländerung. Dazu benötigen insbesondere Betroffene nach stationärer oder ambulanter Rehabilitation oft eine längerfristige Nachsorge. Hier ist die ambulante Psychotherapie bei Betroffenen mit komorbiden psychischen Störungen ein wichtiger Bestandteil der Behandlungskette, neben Suchtselbsthilfe und Nachsorgegruppen an Suchtberatungsstellen.

Alkohol ist auch unter Jugendlichen ein Thema. Stichworte sind u.a. familieninterne Probleme, früher Einstieg, falsche „Vorbilder“. Wo liegen die Aufgaben der Psychotherapie?

Neben der Weiterentwicklung und zahlenmäßigen Erweiterung von psychotherapeutischen Hilfsangeboten für Kinder und Jugendliche sehe ich zwei weitere wichtige Arbeitsfelder. Zum einen besteht ein ebenso erheblicher Förderungs-, wenn nicht sogar Behandlungsbedarf auf Seiten der elterlichen Bezugspersonen. Zum anderen benötigen Fachkräfte, die mit diesen Kindern und Jugendlichen in Kontakt kommen, Schulungen und Unterstützung in ihrer Arbeit. Hier gibt es auch schon eine ganze Menge. Ein sehr gutes Beispiel ist das FAMOS-Projekt in der Modellregion für Erziehung in Paderborn, in dem Familien gestärkt wurden und bei dem die PTK NRW Kooperationspartnerin war. Und nicht zuletzt sehe ich hier eine gesellschaftspolitische Aufgabe für die PTK NRW: Sie sollte dafür eintreten, dass Kinder- und Jugendliche noch besser vor Alkoholangeboten und Alkoholwerbung geschützt werden.

Meldung der PTK NRW vom 16. April 2015:
FAMOS

Externe Links:
Aktionswoche Alkohol
Fragebogen zum riskanten Alkoholkonsum: CAGE

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